Spin-off der HTWK Leipzig revolutioniert chirurgisches Training mit High-Tech-Simulator: Wirbelsäulenexperten aus aller Welt trainieren erstmals in Davos an künstlichem Rücken
Jedes Jahr im Dezember reisen Chirurgen aus aller Welt nach Davos in den Schweizer Alpen, um unter Anleitung internationaler Koryphäen ihre Operationstechniken zu verbessern. Für das Training von mikrochirurgischen Eingriffen an der Wirbelsäule bot die Chirurgen-Fachgesellschaft AO Spine 2016 erstmals Trainingskurse an dem neuartigen Simulationssystem RealSpine an. Der aus künstlichem Gewebe, Blut und Knochen anatomisch exakt nachgebaute Rücken ermöglicht Ärzten, Operationen unter realistischen Bedingungen, aber ohne Risiko für einen echten Patienten zu trainieren. Entwickelt wurde RealSpine von Wissenschaftlern der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig).
„Das Konzept von RealSpine beruht auf einem realistischen haptischen Feedback, das einer lebensechten Operation extrem nahe kommt“, so Werner Korb, Professor für Simulation und Ergonomie in der operativen Medizin an der HTWK Leipzig, der den Simulator gemeinsam mit einer interdisziplinären Forschungsgruppe aus Ingenieuren, Ärzten und Designern entwickelt hat. Korb: „Bei Piloten ist simulatorbasiertes Training längst State of the Art, um Fliegen so sicher wie möglich zu machen. Die Komplexität von Flugzeugcockpit und modernem Operationssaal ist vergleichbar, ebenso die Verantwortung, die für das Leben anderer übernommen wird. Deshalb sind wir überzeugt, dass simulatorbasiertes Training auch in der Chirurgie üblich werden wird, um die Patientensicherheit zu steigern.“ Um diese Vision voranzubringen, hat Werner Korb 2015 gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Luis Bernal ein Spin-off der HTWK Leipzig gegründet. Seitdem führen die Wissenschaftler weltweit chirurgische Trainingskurse am Simulationssystem RealSpine durch. In Davos stellten die Forscher die neueste Version des Simulators vor. Neben Bandscheiben-OPs können an RealSpine nun auch Operationen des Wirbelkanals trainiert werden. Dazu wurde auf Grundlage echter Patientendaten eine sogenannte Spinalkanalstenose, ein schmerzhaft verengter Wirbelkanal, aus künstlichem Gewebe, Blut und Knochen nachgebildet.
Insgesamt trainierten in Davos 30 Teilnehmer aus 14 Ländern minimalinvasive Operationstechniken und den Umgang mit unerwarteten Komplikationen während einer Operation. Angeleitet wurden sie dabei von sechs renommierten Chirurgen aus den USA, der Schweiz, Deutschland und Spanien. Dr. Harry Gebhard, Oberarzt Orthopädie am Kantonsspital Baselland, sagt: „Ich bin überzeugt, dass die chirurgische Simulation zukünftig einen wichtigen Stellenwert haben wird. Denn die Technologie wird immer realitätsnäher und kann ohne hygienische oder örtliche Auflagen eingesetzt werden.“ Dr. Andreas Korge, Chefarzt im Wirbelsäulenzentrum der Schön Klinik München, ergänzt: „Bis jetzt war das Training von minimalinvasiven Operationstechniken immer daran gebunden, dass anatomische Präparate von Tieren oder Verstorbenen zur Verfügung stehen. RealSpine ermöglicht jetzt, das ganze Training von Kadavern zu entkoppeln, zu standardisieren und so einen hohen operativen Trainingsstand zu erreichen.“
Bei den Teilnehmern kam der Trainingskurs ausgesprochen gut an. Der Orthopäde Casey Davidson aus Mississippi, USA, lobte: „Der Kurs war fantastisch! Die Simulation ist sehr realistisch und das Gewebe unglaublich nah am lebenden Patienten.“ Auch der südafrikanische Chirurg Marius du Preez war vom Training begeistert: „Der Simulator ist erstaunlich realistisch. Da ich selbst noch nicht sehr viel Erfahrung mit minimalinvasiven Eingriffen habe, war der Simulator ein tolles Tool, um den Gebrauch des OP-Mikroskops zu lernen und minimalinvasive Techniken zu üben.“
Hintergrund:
Rückenschmerzen, vor allem im Bereich der Lendenwirbelsäule, verursachen weltweit mehr Einschränkungen als andere Gesundheitsbeschwerden. In Deutschland gehören Operationen der Wirbelsäule zu den häufigsten Eingriffen: Rund 150.000 Patienten werden jedes Jahr wegen eines Bandscheibenvorfalls, rund 100.000 weitere Patienten wegen eines schmerzhaft verengten Wirbelkanals operiert. All diese Eingriffe finden in unmittelbarer Nähe des Rückenmarks statt. Um möglichst wenige Muskel- und Nervenstrukturen durch die Operation zu schädigen, werden Operationen an der Wirbelsäule heutzutage oft minimalinvasiv durchgeführt. Der Chirurg verschafft sich dabei über einen kleinen Schnitt Zugang zur Wirbelsäule und orientiert sich im Operationsgebiet mithilfe eines hochauflösenden Mikroskops. Vom operierenden Arzt erfordert das viel Übung und Erfahrung. Bei speziellen Trainingskursen wie in Davos können Chirurgen ihre Operationstechnik unter Anleitung erfahrener Ärzte perfektionieren. Verwendet wurden dafür bislang anatomische Präparate von toten Tieren oder Verstorbenen. Mit einer Operation am lebenden Menschen sind solche Übungen an Präparaten aber kaum vergleichbar.
Weitere Informationen:
Die Forschungen zu RealSpine und die Ausgründung des Spin-offs RSTT GmbH wurden vom Bundesforschungsministerium, vom Bundeswirtschaftsministerium, dem Freistaat Sachsen sowie der Leipziger Stiftung für Innovation und Technologietransfer gefördert.
Wissenschaftlich publiziert wurden die Ergebnisse zu RealSpine u.a. hier: Adermann J, Geißler N, Bernal LE, Kotzsch S, Korb W (2014). Development and Validation of an Artificial Wetlab Training System for the Lumbar Discectomy. European Spine Journal. DOI: 10.1007/s00586-014-3257-3