Damit bei Operationen keine Fehler passieren, brauchen Chirurgen viel Übung und Erfahrung. Ärzte, Spieleentwickler, Pädagogen und Ingenieure haben deshalb gemeinsam ein Trainingssystem für die Wirbelsäulenchirurgie entwickelt: Mit „SurMe“ lassen sich erste Schritte in der Chirurgie bis hin zu einer vollständigen Bandscheibenoperation üben. Geleitet wurde das Projekt an der HTWK Leipzig.
Ein Brennen im unteren Rücken und starke Rückenschmerzen, die bis in die Arme oder Beine ausstrahlen, sind typische Anzeichen für einen Bandscheibenvorfall. Die Bandscheibe besteht aus einem gelartigen Kern, der von einer knorpelartigen Außenhülle geschützt wird. Reißt diese Außenhülle, tritt die gelartige Substanz aus und drückt auf den außerhalb der Bandscheibe verlaufenden Nerv oder das Rückenmark, was Reizungen und damit Schmerzen verursacht. „Nicht jeder Patient muss bei Beschwerden an der Bandscheibe zwingenderweise operiert werden. Oft führt auch eine konservative Therapie zum Erfolg und der Patient ist weitgehend beschwerdefrei. Kommt es jedoch zu neurologischen Ausfällen wie beispielsweise Lähmungserscheinungen oder Kontrollverlust bei Blase und Darm, dann ist eine operative Therapie ratsam“, sagt Dr. Christoph Mehren, Chefarzt im Wirbelsäulenzentrum der Schön Klinik München Harlaching.
Kommt es zur OP, wird ein Bandscheibenvorfall meist mikrochirurgisch behandelt. Bei dieser Methode verwendet der Chirurg ein Operationsmikroskop und spezielle, sehr kleine Operationsinstrumente. Er entfernt das ausgetretene Bandscheibengewebe und nimmt damit den Druck auf den umliegenden Nerv und das Rückenmark. Das sehr kleine Operationsfeld von ungefähr zwei mal zwei Zentimetern erfordert vom Chirurgen präzises Arbeiten und höchste Konzentration, um die Strukturen rund um die Bandscheibe nicht zu verletzen.
Chirurgische Simulationssysteme der HTWK Leipzig
Traditionell lernen Ärzte derartige Operationen durch das Beobachten erfahrener Chirurgen und das schrittweise Übernehmen einzelner OP-Schritte. Doch neue Technologien werden in der medizinischen Aus- und Weiterbildung immer wichtiger, wie Werner Korb, Professor für Simulation und Ergonomie in der operativen Medizin an der HTWK Leipzig, ausführt: „An Simulatoren lassen sich gezielt spezifische Situationen und Komplikationen herbeiführen, die man am echten Patienten so nicht trainieren kann. Macht der Arzt einen Fehler, kann dieser ausgewertet und korrigiert werden. Am echten Patienten jedoch kann schon ein kleiner Fehler weitreichende Folgen haben.“ Seit bald zehn Jahren entwickelt Werner Korb gemeinsam mit einem interdisziplinären Team Simulationssysteme für die Chirurgie. Das besondere an den Leipziger Simulatoren: Sie sind nicht virtuell, sondern bestehen aus künstlichem Gewebe, Kunstblut und Elektronik.
Parallel zu seiner wissenschaftlichen Arbeit gründete Korb bereits 2015 gemeinsam mit seinem Forscherkollegen Dr. Luis Bernal die Realists Training Technologies GmbH. Seitdem bietet das Unternehmen weltweit Trainings an den Leipziger Simulatoren an – mit wachsendem Erfolg. Bis 2019 lehrte und forschte Werner Korb parallel an der HTWK Leipzig weiter. Im April schloss er das jüngste Forschungsprojekt erfolgreich ab: Mit Förderung des Bundesforschungsministeriums haben die Wissenschaftler der HTWK Leipzig das Lernsystem „SurMe“ entwickelt, das Chirurgen vom Medizinstudium über die Facharztweiterbildung bis in den Klinikalltag begleitet. Das Wirbelsäulenzentrum der Schön Klinik München steuerte als klinischer Partner seine chirurgische Expertise bei. Mit der Heidelberger Firma MRC Systems und dem Leipziger Unternehmen CodeCraft gelang die technische Umsetzung des Projektplans. Die Programmierarbeiten übernahm das uruguayische Softwareunternehmen Buhoview.
SurMe – The Surgical Mentor System
SurMe besteht aus einem Serious Game, einem realistischen Wirbelsäulensimulator und einer Lernplattform, auf der sich die Fortschritte des Lerners individuell einsehen lassen. Das Serious Game hält acht Minispiele in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen bereit, mit denen für die Wirbelsäulenchirurgie typische Bewegungen trainiert und perfektioniert werden können. Dabei löst der Spieler auf engstem Raum Geschicklichkeitsaufgaben. So müssen mit einem Spatel, an dem ein Marker angebracht ist und der als Instrument dient, Objekte an einer bestimmten Position für einige Sekunden gehalten oder geschickt um ein Hindernis herummanövriert werden. Je weniger Zeit der Spieler dafür benötigt, desto mehr Punkte erhält er. Ist eine Aufgabe geschafft, wird das nächste Level freigeschaltet. Neben Fingerspitzengefühl muss der Spieler dabei vor allem eins mitbringen – eine ruhige Hand.
An einem Wirbelsäulensimulator, der sich wie ein echter Patient verhält, können fortgeschrittene Studierende und Assistenzärzte ein reales Operationsszenario trainieren. Über ein Mikroskop sieht der Operateur direkt in die Operationswunde hinein. Die Muskeln, Knochen und das Gewebe können mit echten Instrumenten operiert werden. Sensoren nehmen die Kraft auf, mit denen der Chirurg auf empfindliche Strukturen wie das Rückenmark einwirkt, und die im Projekt entwickelte Auswertungssoftware präsentiert die entsprechenden Kurven auf einem Bildschirm. Ein Vergleich mit den Daten eines Experten zeigt dann, an welchen Stellen der zukünftige Chirurg zu viel Druck ausgeübt hat. Das Simulationssystem und die Kraftsensoren wurden bereits in früheren Projekten der HTWK Leipzig entwickelt und nun von den Wissenschaftlern um die Auswertungssoftware und das pädagogische Bewertungskonzept erweitert.
Positives Feedback von Ärzten und Bürgern
„Wir als ausbildende Institution haben die Möglichkeit, über eine Lernkurve den Fortschritt unserer Ärzte zu verfolgen und darüber hinaus zu erkennen, ob ihnen die Chirurgie wirklich liegt.“
Dr. Christoph Mehren (Schön Klinik München)
Eine fertige Version des Serious Games wurde 2018 mit Chirurgen der Schön Klinik München und der Semmelweis Universität Budapest getestet und validiert. Die teilnehmenden Ärzte nahmen das Spiel insgesamt positiv auf und stuften es als unterhaltsam und zugleich lehrreich ein. Testoperationen sowohl mit Assistenzärzten als auch mit erfahrenen Wirbelsäulenchirurgen bescheinigen dem Wirbelsäulensimulator eine hohe Realitätsnähe und zahlreiche Einsatzmöglichkeiten in der Aus- und Weiterbildung in der Wirbelsäulenchirurgie. Dr. Christoph Mehren von der Schön Klinik ordnet ein: „Wir als ausbildende Institution haben die Möglichkeit, über eine Lernkurve den Fortschritt unserer Ärzte zu verfolgen und darüber hinaus zu erkennen, ob ihnen die Chirurgie wirklich liegt.“
Auch in der Öffentlichkeit sorgte SurMe für reges Interesse. Ende November stellten die Wissenschaftler das Projekt in München, Bremen, Leipzig und Aachen im Rahmen der Informationstour Erfahrbares Lernen des Bundesforschungsministeriums einer breiten Öffentlichkeit vor. Zur Hannover Messe 2019 probierte sogar Bundesforschungsministerin Anja Karliczek das chirurgische Lernsystem aus. Nach Projektabschluss konzentriert sich Prof. Werner Korb ganz auf den Transfer der erarbeiteten Forschungsergebnisse in die Praxis. Dazu beitragen wird neben Realists Training Technologies auch ein neues Unternehmen: 2019 gründete Korb mit Vocationeers ein Start-up, das sich auf die berufliche Weiterbildung durch neue Technologien spezialisiert hat.
Autorinnen: Eszter Fenyőházi & Rebecca Schweier