Netzoptimierung statt Ausbau: Patentiertes Diagnosesystem der HTWK soll volle Ausnutzung der Übertragungskapazitäten von Stromleitungen ermöglichen
Im Jahr 2020 blieben 6.146 Gigawattstunden1 erneuerbare Energie ungenutzt, weil das Stromnetz in Deutschland nicht leistungsfähig genug ist. Das entspricht etwa dem jährlichen Stromverbrauch von 1,9 Millionen Privathaushalten. Gerade bei Sturm erzeugen Windkraftanlagen oft mehr Energie, als zu Verbraucherinnen und Verbrauchern transportiert werden kann. Doch der Netzausbau kommt nur schleppend voran. Wissenschaftler des Forschungs- und Transferzentrums Leipzig an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig haben ein Diagnosesystem entwickelt, mit dem ungenutzte Reserven im Stromnetz identifiziert werden können. Das System soll einen witterungsabhängigen Freileitungsbetrieb unterstützen. Konkret ermittelt das kamerabasierte Funksensorsystem den Durchhang von Stromleitungen und damit, wieviel Strom die Leitungen maximal transportieren können, ohne den Mindestabstand zum Boden zu unterschreiten. Die Entwicklung der vier Wissenschaftler Fabian Wießner, Martin Glaß, Kai Bartholomäus und Faouzi Derbel wurde im November 2021 patentiert.
„An Freileitungsmasten besteht durch die hohen elektrischen Spannungen ein starkes elektromagnetisches Feld, das für Menschen und Tiere gefährlich werden kann“, so Faouzi Derbel, Professor für Monitoring und Diagnostik in der elektrischen Energietechnik an der HTWK Leipzig. Je nach Art der Freileitungsanlage ist deshalb ein Mindestabstand vorgeschrieben, bei neugebauten Freileitungen mit einer Nennspannung von 380 Kilovolt beispielsweise mindestens zwölf Meter bis zum Erdboden. „Wie tief eine Freileitung hängt, ist maßgeblich von ihrer Temperatur abhängig – je wärmer, desto länger die Leiterseile und desto größer der Durchhang. Die Temperatur wiederum wird vom Wetter und von der transportierten Energiemenge beeinflusst“, so Derbel weiter.
Um die Übertragungskapazität der Stromleitungen zu erhöhen, müssten Energieversorgungsunternehmen wissen, wann der maximale Durchhang der Stromleitungen erreicht ist. Zu diesem Zweck hat Derbel gemeinsam mit seinem Forschungsteam die Messeinrichtung entwickelt. „Die Herausforderung war, ein autarkes System zu konstruieren, das nicht an den Leitungen befestigt ist. Durch die angespannte Netzsituation ist schließlich die Abschaltung von Freileitungen nicht möglich, ohne die Netzstabilität zu gefährden“, sagt Derbel. Die Ingenieure haben deshalb einen Messsensor mit Kamera konstruiert, der am Strommast angebracht werden kann. Seine für den Betrieb benötigte Energie gewinnt das System eigenständig aus den Ableitströmen an den Strommasten. Mittels intelligenter Bildverarbeitung werden aus den längs aufgenommenen Bildern die Neigungen der Leitungen erkannt und daraus der Durchhang ermittelt. In Zukunft sollen diese Daten per Funk übertragen werden, sodass Energieversorgungseinrichtungen automatisch die durchgeleitete Strommenge anpassen können.
[1]Quelle: Bundesnetzagentur, Zahlen zu Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen – Gesamtjahr 2020, 26.04.2021
Die Forschung wird im Rahmen des Forschungsprojekts „Zapdos“ von 2019 bis 2022 aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) durch den Freistaat Sachsen gefördert.