Der Umstieg auf erneuerbare Energien und der gleichzeitig wachsende Energiebedarf stellen unser Stromnetz vor viele Herausforderungen. Vor allem muss es leistungsfähiger, flexibler und intelligenter werden, ohne dabei an Ausfallsicherheit einzubüßen. Auf dem Weg zu einem solchen „Smart Grid“ sind viele Hürden zu bewältigen. HTWK-Professor Faouzi Derbel arbeitet daran.
Als im Februar 2020 das Sturmtief „Sabine“ über Deutschland fegte, sorgte das für einen neuen Rekord: Zwei Drittel des in Deutschland benötigten Stroms wurden aus Windkraft gespeist. Damit war für ein paar Tage das Ziel erreicht, das eigentlich erst bis 2030 vorgesehen ist: mindestens 65 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien zu decken. Doch der Orkan machte auch deutlich: Unser Stromnetz ist noch nicht für solche Extremereignisse gewappnet. Nicht nur, dass vielerorts umgestürzte Bäume für Stromausfälle sorgten. Es mussten auch etliche Windräder abgestellt werden, weil das Überangebot an Strom sonst das Netz womöglich überlastet hätte. Damit blieben nach Recherchen der ZEIT im Nordosten Deutschlands 210 Gigawattstunden an grüner Energie ungenutzt – diese Menge hätte eine Stadt mit 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern für ein ganzes Jahr versorgen können.
Übertragungskapazitäten besser nutzen
Um die Energiewende zu bewältigen, muss das deutsche Stromnetz auf vielen Ebenen leistungsfähiger werden. Beispielsweise sollte es mehr Strom transportieren können. Doch der Netzausbau wird allerorts durch Anwohnerkritik verzögert oder gar verhindert. Also müssen Versorgungsunternehmen das vorhandene Netz besser nutzen. „Tatsächlich gibt es hier noch einigen Spielraum“, sagt Faouzi Derbel, Professor für Monitoring und Diagnostik in der elektrischen Energietechnik an der HTWK Leipzig. Doch damit, einfach nur mehr Strom durch das Leitungsnetz zu schicken, ist es nicht getan. „Durch einen höheren Stromfluss erwärmen sich die Leiterseile in Freileitungsanlagen, die dadurch länger werden und stärker durchhängen. In direkter Nähe der Leitungen besteht ein elektrisches Feld mit hoher Spannung, das für Menschen und Tiere gefährlich werden kann. Außerdem können Kurzschlüsse entstehen“, so Derbel. Je nach Art der Freileitungsanlage ist deshalb ein Mindestabstand vorgeschrieben, bei neugebauten Freileitungen mit einer Nennspannung von 380 Kilovolt beispielsweise mindestens zwölf Meter bis zum Erdboden.
Um dennoch die Übertragungskapazität der Stromleitungen zu erhöhen, müssten Energieversorgungsunternehmen wissen, wann der maximale Durchhang der Stromleitungen erreicht ist. Zu diesem Zweck entwickelt Derbel gemeinsam mit seinem Team im Projekt „Zapdos“ eine Messeinrichtung. „Die Herausforderung ist es, ein autarkes System zu konstruieren, das nicht an den Leitungen befestigt ist. Schließlich darf man diese nicht anfassen“, sagt Derbel. Die Ingenieure stellen deshalb einen Messsensor mit Kamera her, der später am Mast angebracht werden kann. Mittels intelligenter Bildverarbeitung sollen aus den längs aufgenommenen Bildern die Neigungen der Leitungen erkannt und daraus der Durchhang ermittelt werden. Diese Daten sollen per Funk an die Energieversorgungseinrichtungen übertragen werden, die dann automatisch die durchgeleitete Strommenge anpassen können. Damit die Messeinrichtung autark funktioniert, soll sie ihre benötigte Energie für den Betrieb eigenständig aus den Ableitströmen an den Strommasten gewinnen. Bis Mitte 2022 soll der Sensor fertig sein.
Herausforderungen im Mittelspannungsnetz
Das Zapdos-Messsystem ist vor allem für das Höchst- und Hochspannungsnetz gedacht. Diese Leitungen transportieren Strom über große Distanzen bei mehreren hunderttausend Volt. Nur in diesem „Transportnetz“ stehen den Netzbetreibern derzeit Informationen zur Verfügung, wie viel Energie an welcher Stelle eingespeist wird – und nur hier kann die Stromübertragungsmenge direkt gesteuert werden. Für die regionale und lokale Weiterverteilung wird die Energie in Netze mit mittlerer und niedriger Spannung übertragen. Auch dieses „Verteilnetz“ muss dringend um- und ausgebaut werden. Vielerorts passiert das schon: Mittelspannungsfreileitungen werden zunehmend durch Erdkabel ersetzt. Bei der Bevölkerung finden die unterirdischen und damit unsichtbaren Kabel mehr Akzeptanz, zugleich sind sie besser vor umfallenden Bäumen und anderen Beschädigungen geschützt.
Außerdem wird immer mehr Energie von dezentral verteilten Windrädern, Biomassekraftwerken und Solaranlagen direkt ins Mittelspannungsnetz eingespeist. Damit fließt Strom nicht mehr nur von wenigen großen Kraftwerken über Hoch-, Mittel- und Niederspannungsnetze zu vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern auch in entgegengesetzter Richtung übers Mittelspannungs- ins Hochspannungsnetz. Die Netzbelastung nimmt zu.
Blackouts verhindern
„Was Stromausfälle angeht, gehört unser Netz zu den sichersten in ganz Europa. Das liegt auch an einer besonders ausgeprägten Fehlertoleranz in unseren Mittelspannungsnetzen. Grob gesagt, könnten die Netze auch dann weiterbetrieben werden, wenn ein Erdschluss, also ein Kurzschluss der Stromleitung mit der Erde, vorläge – solange der Fehlerstrom eine bestimmte Stärke nicht überschreitet“, erklärt Kai Bartholomäus, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Derbels Forschungsgruppe. Je größer ein Netz und je größer der Anteil an Erdkabeln, desto höher der mögliche Fehlerstrom. Für seine Berechnung werden mathematische Modelle verwendet. Doch je mehr dezentrale Energieerzeugerinnen und -erzeuger Strom ins Mittelspannungsnetz einspeisen, desto ungenauer sind diese Modelle. Ursache sind Oberschwingungen, die erneuerbare Energien im Stromnetz verursachen und die bei der üblichen Berechnungsmethode nicht berücksichtigt werden.
Um trotz ungenauer Berechnungen keine Stromausfälle zu riskieren, bleibt den Netzbetreibern nichts anderes übrig, als entsprechende Sicherheitsreserven vorzuhalten. Das reduziert die Übertragungskapazität des Stromnetzes unnötig – effizient ist das nicht. Als Lösung haben Faouzi Derbel und sein Team deshalb ein Messsystem entwickelt, das die Fehlerstromhöhe anhand eines kontrolliert herbeigeführten Erdschlusses messtechnisch ermittelt. Das Besondere an ihrem Verfahren ist, dass es – anders als herkömmliche Erdschlussversuche – keinerlei Risiko eines Stromausfalls birgt. Die nötige Technik passt in einen LKW. Das patentierte Verfahren befindet sich derzeit in der Markteinführungsphase und wird bereits bei verschiedenen Netzbetreibern eingesetzt. Dadurch können diese die Einhaltung der Grenzwerte mit sicheren Messungen nachweisen und ihre Netze effizienter nutzen, ohne Stromausfälle zu riskieren.
Ein effizientes ist ein intelligentes Stromnetz
Künftig soll es auch viel mehr Messungen in dem Teil des Stromnetzes geben, der die Privathaushalte versorgt: im Niederspannungsnetz. „Bislang ist das eine Art Blackbox. Stromnetzbetreiber erfahren einmal im Jahr bei der Zählerablesung, wie viel Strom jeder Haushalt verbraucht hat. Dadurch ist es extrem schwierig, das Netz bedarfsgerecht auszubauen und klug zu steuern“, so Derbel. Besonders wenn künftig immer mehr Haushalte große Mengen Strom zum Laden ihrer Elektroautos entnehmen oder auf dem eigenen Hausdach erzeugte Solarenergie ins Netz einspeisen. „Um unser Netz nicht unter großem Geld- und Ressourceneinsatz immer weiter auszubauen, müssen wir es dezentralisieren“, ist Derbel überzeugt. Energie könnte in Zukunft also stärker regional verbraucht, statt wie derzeit üblich einmal quer durch die Republik transportiert werden. Das würde den Neubaubedarf großer Stromtrassen reduzieren. „Voraussetzung dafür ist aber ein insgesamt intelligenteres Energie-Management-System. Und dazu muss man wissen, wann mit welchem Verbrauch zu rechnen und von welcher Quelle welche Energiemenge zu erhalten ist“, erklärt Derbel.
Im eigenen Zuhause können intelligente Stromzähler, sogenannte Smart Meter, diese Daten messen. Sobald sie flächendeckend eingesetzt werden, wissen Energiefirmen, wie die Erzeugung und der Verbrauch in jedem Teilabschnitt eines Stromnetzes aussehen. Daraufhin können sie den Strom passender zum tatsächlichen Verbrauch erzeugen oder Maßnahmen zur Netzstabilisierung planen, um gefährliche Frequenzschwankungen zu vermeiden. Die Umrüstung auf Smart Meter hat 2020 begonnen, zunächst für Kundinnen und Kunden mit einem Energieverbrauch ab 6.000 Kilowattstunden pro Jahr und für jene, die eigene Solaranlagen betreiben. „Die Kommunikationsinfrastruktur und die Menge der anfallenden Daten bereiten derzeit die größten Probleme. Aktuell erhalten wir alle 15 Minuten Daten zum Verbrauch von den Endkundinnen und Endkunden, wodurch bereits jetzt riesige Datenmengen entstehen. Daten sollen aber künftig in Echtzeit geliefert werden“, sagt Derbel. Zusammen mit seinem Team erforscht er deshalb, wie die Daten aufs Wesentliche reduziert werden können, um dann per Funk an die Netzbetreiber weitergeleitet zu werden.
Bis auch der kleinste Haushalt mit elektrischen Messeinrichtungen ausgestattet ist, dauert es laut Bundeswirtschaftsministerium noch elf Jahre. Bis dahin arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit den Energieunternehmen daran, möglichst viele Informationen aus den bereits verfügbaren Daten herauszuholen und das Netz Schritt für Schritt und auf allen Netzebenen zu einem „Smart Grid“, einem intelligenten Netz, umzubauen. Denn noch Jahrzehnte auf die Energiewende warten, dazu lässt uns das Tempo des Klimawandels keine Zeit.
Prof. Dr. Faouzi Derbel (*1970) ist seit 2013 Professor für Monitoring und Diagnostik in der elektrischen Energietechnik an der HTWK Leipzig. Nach dem Elektrotechnik-Studium und anschließender Promotion in München arbeitete der gebürtige Tunesier viele Jahre in der Industrie. So war er unter anderem Entwicklungsleiter von Sub- und Smart-Meter-Lösungen bei Siemens. Seit Juli 2020 vertritt Derbel Deutschland in der Arbeitsgruppe „Smart Cities“ innerhalb der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC). Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Länder erarbeitet er hier ein Referenzarchitekturmodell für Smart Cities.
Autorin: Dr. Rebecca Schweier
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2020/21 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.