Der Delinquent heißt Andreas Reinhold. Genauer: Dr. Andreas Reinhold. Das ist wichtig, denn der Titelgewinn ist’s, der den 35-Jährigen in seine missliche Lage bringt. In einem umgekehrten Doktorhut stehend wird er mittags in die Cafeteria des Wiener-Baus hineingerollt. Dort warten knallharte Vollstrecker: die Promotionskommission.
Aber der Reihe nach: Heute ist wieder Zeit für ein Doktorfest. Die Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik (EIT) hat anno 2012 die alte Tradition wiederbelebt, neue Doktoren in einer Nachfeier besonders zu würdigen. Andreas Reinhold ist in diesem Reigen erst Prüfling Nr. 4 – auch weil sich nicht jeder junge Doc dieser besonderen Nachprüfung stellen mag. Denn hier trifft, angeblich ausnahmsweise, ganz viel Spaß auf ganz wenig Inhalt. Wobei trotzdem gelegentlich der Gedanke durchblitzt: Hut ab, Herr Doktor!
Wenige Tage vor diesem Akt steckt an jeder Bürotür im Haus eine Einladung – in dem Ausmaß gibt es dieses Format hochschulweit nur hier („Bau“ macht's ähnlich!), und man ist im Wiener-Bau schon auch ein wenig stolz darauf. Nach einem höchst unterhaltsamen Stündchen in der Cafeteria zeigt sich: zu Recht!
12.47 Uhr stellt Moderator Kai Bartholomäus, eigentlich Ingenieur und „Mithäftling hinter vergitterten Kellerfenstern“ und (noch) guter Andreas-Reinhold-Kumpan, die Promotionskommission vor. Die besteht aus „Prof.“ Gerd Bieber (aka Hausmeister) und aus Silvia Paketuris-Scholer. Und aus einem Studenten, weil es ja noch jemanden brauche, der lesen kann.
12.52 Uhr: Es hagelt Lob auf die Doktorarbeit, in der sich Reinhold unter höchst komplizierter Überschrift mit höherer Stromnetzqualität befasst hat. (Sehr kurz für Laien: Geräte sind häufig nicht „netzfreundlich“, produzieren nämlich Oberschwingungen, obwohl es eigentlich eine „schöne Sinuskurve“ braucht. Woraufhin man mit Filtern gegensteuern kann.) Paketuris-Scholer jedenfalls sei bei diesem „Feuerwerk der Schreibkunst“ wegen der „harmonischen Silben“ ein „wohliger Schauer“ über den Rücken gelaufen – und das trotz traurig-depressivem Einband der Arbeit. Der legasthenische Prof. Bieber fasst sich kurz, hält einen Facebook-Like-Daumen hoch. Der Studierende muss seine Laudatio abbrechen. Sein Telefon brummt. „Süß, ein Katzenvideo!“
Gegen 13 Uhr wird Andreas Reinhold für seine bevorstehende Verteidigung ausgestattet. Sein neuer Doktorhut enthält Filter unterschiedlicher Couleur: eine Zigarette, einen Teebeutel, einen Kaffee-Filter und einen Ölfilter. Ein Gefäß ist befüllbar, ein Schlauch geht davon ab, hängt dem Laboringenieur tief ins Gesicht. Nebenan ist eine Schnapsbar aufgebaut – man ahnt die Zusammenhänge.
Aus Erzgebirgler mit unbeschwerter Jugend wird loyaler HTWK-Leipziger
Kurz nach 13 Uhr startet Reinhold seinen Kurzvortrag. Noch ziemlich nüchtern (wobei: Wer weiß das schon?!) überrascht er „seine“ Fakultät mit viel Wortwitz. Dabei beschreiben ihn Kollegen als eher zurückhaltend. Während der Fachschaftsrat draußen den Grill anheizt – es gibt neben Frei-Bier auch Frei-Wurst – erzählt er von erzgebirgischer Herkunft samt unbeschwerter Jugend, dann von seinem Werdegang mit loyal-langjähriger HTWK-Zugehörigkeit.
Seine Promotion hat er mithilfe der TU Ilmenau verwirklicht. Seinen Doktorvater an der HTWK Leipzig, Prof. Rolf Grohmann, stellt er in dankbarer Geste als „Oberster Strom-Richter“ vor. Grohmann, wie viele seiner Kollegen selbstverständlich anwesend, lächelt: sein Junge! Dessen „echte“ Verteidigung übrigens im Dezember 2017 stattfand und der seit April die Doktorurkunde in Händen hält.
Etwas fachlich wird es dann doch: Reinhold erklärt mit einer Skizze, wie man den Oberschwingungen im Stromnetz noch beikommen könne. Erstens: Das Filter lahmlegen. Per Abschalteinrichtung. „Kennt man ja von VW.“ Die Cafeteria tobt. Oder zweitens, noch besser: Ein Software-Update, und zwar im Messgerät. „Dann kann man die Messwerte nämlich ordentlich anpassen.“ Problem gelöst. Gelächter.
Und ja, es heißt hier wirklich das Filter!
Dem erhellenden Vortrag folgen heftige Fragen des ernst dreinblickenden Gremiums aus diversen EIT-Fachgebieten: „Wann ist der Drehmoment?“, will man wissen. Apropos: Zu diesem Zeitpunkt sitzt Reinhold schon auf einem Ergometer (Bartholomäus: „Regenerative Energie!“), versorgt eine mühsam selbst angeschlossene Carrera-Rennbahn mit Strom. Fliegt sein Rennwagen aus der Kurve oder beantwortet er eine Frage falsch nicht zum Wohlgefallen der Kommission, gibt es eine Runde in den Filter auf dem Hut.
„Nach der Aktion möchte ich gern eine Pflegestufe beantragen“, ruft der 35-Jährige in den Raum. Und beantwortet die irren Fragen trotzdem souverän. „Wie lautet das Ergebnis des WM-Gruppenspiels Portugal gegen Marokko?“ Das ist nicht so leicht – denn das Spiel hat noch nicht angefangen. Reinhold kontert: „Null zu Null nach Elfmeterschießen.“ Das gibt dreimal „Bestanden“ von der Jury.
Dies gilt leider nicht für die Frage, wie der vollständige Titel seiner Arbeit heißt. Ausgerechnet hier scheitert Reinhold knapp. Was auch nüchtern betrachtet nicht verwundert: Theoretische Untersuchung und Simulation einer aktiven Filteranlage mit parallel-serieller Struktur für sechspulsige Diodengleichrichter.
Nach etwas mehr als einer Stunde wird Dr. Andreas Reinhold „erlöst“. Prodekan Prof. Wolfgang Reinhold, nicht verwandt oder verschwägert, gratuliert fakultätsseitig mit Blumen. Und Doktorvater Grohmann, sichtlich gerührt, erinnert sich auch an 1984 – als nämlich an gleicher Stelle seine Doktorfeier stattfand: „Einfach eine tolle Tradition!“ Die sich vor der Tür fortsetzt. Mit Frei-Wurst vom Fachschaftsrat.
(Autor: Reinhard Franke)