Welche Arbeitsabläufe können langfristig zu Schmerzen führen? Das analysiert ein videobasiertes System der HTWK Leipzig
Die Autokarosserie fährt lautlos heran, ein Mechaniker beugt sich herab, montiert die Motorhaube, die nächste Karosserie fährt heran, der Mechaniker beugt sich wieder herab, montiert eine Motorhaube …
Viele Male am Tag die gleichen Handgriffe, Bewegungen, Belastungen. Auf Dauer kann das im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knochen gehen. Muskel-Skelett-Erkrankungen zählen zu den häufigsten Gesundheitsproblemen in der Arbeitswelt. Sie verursachen in Deutschland rund ein Fünftel aller Arbeitsunfähigkeitstage und mehr als 30 Milliarden Euro an Krankheitskosten pro Jahr. Einem besonderen Risiko sind Personen ausgesetzt, deren Arbeitsplatz durch monotone und wiederkehrende Bewegungen geprägt ist. So führen hockende und kniende Positionen häufig zu Knieschmerzen, gebückte Positionen zu Rückenschmerzen und Arbeiten über Kopf zu Schulterschmerzen.
Im Leipziger BMW-Werk schulen deshalb Gesundheitsexpertinnen und -experten jährlich mehrere hundert Vorarbeitende und Führungskräfte. Sie vermitteln ihnen darin, wie wichtig es ist, die Bewegungsabläufe bei der Arbeit regelmäßig zu variieren und bestimmte Bewegungen zu vermeiden. Dabei unterstützt sie ein System der Forschungsgruppe Laboratory for Biosignal Processing (LaBP) an der HTWK Leipzig: Humen Dynamics. „Humen“ ist ein Akronym aus „human engineering“, dem englischen Begriff für Ergonomie.
Ergonomie von grün bis rot
Humen Dynamics wertet anhand von Videoaufnahmen aus, wie körperlich belastend die gefilmten Arbeitsabläufe sind. Das Besondere ist: Für die Analyse muss keine spezielle Laborsituation geschaffen werden, die arbeitende Person kann mit einer handelsüblichen Kamera gefilmt werden – inzwischen reicht selbst ein Smartphone aus.
Die Software erkennt in den Videos automatisch Schultern, Rücken und Knie, erfasst die Winkel der Gelenke im Bewegungsverlauf und gleicht die Ergebnisse mit aktuellen Ergonomie-Leitlinien wie dem RULA-Verfahren (Rapid Upper Limb Assessment) ab. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person seitlich oder frontal im Bild zu sehen ist und ob sich ihre Position während der Aufnahme verändert. Auf dem Monitor werden die verschiedenen Körperregionen mit einem Ampelsystem von ‚grün – unbedenklich‘ bis ‚rot – überlastet‘ eingefärbt. So ist in Echtzeit ersichtlich, bei welchen Bewegungen an welchen Stellen Belastungen auftreten.
Patrick Frenzel (*1984) forscht seit 2011 in der Arbeitsgruppe „Laboratory for Biosignal Processing“ an der HTWK Leipzig zur Bewegungs- und Biosignalerfassung. Er studierte Elektrotechnik und Informationstechnik an der HTWK Leipzig.
Patrick Frenzel ist der Entwickler hinter Humen Dynamics. Der Elektrotechnik-Ingenieur beschäftigt sich seit 2011 mit der Bewegungs- und Biosignalerfassung. „Ich kenne viele Leute, die regelmäßig ins Fitnessstudio gehen und penibel darauf achten, wie sie die Hanteln anheben, aber bei der täglichen Arbeit überhaupt nicht auf ihre Bewegungsabläufe achten. Dabei sind es oft schon kleine Veränderungen, die Bewegungsabläufe gelenkschonender machen. Mit unserem System können wir das veranschaulichen“, so Frenzel.
Kooperation mit BMW
Den Vorgänger von Humen Dynamics entwickelte Frenzel als Mitglied der HTWK-Nachwuchsforschungsgruppe METEORIT, Praxispartner war das Leipziger BMW-Werk. Hier lief bereits parallel ein Forschungsprojekt mit der Universität Leipzig, in dem der Sportwissenschaftler Franz Mätzold Konzepte zur Gesundheitsförderung an Montagearbeitsplätzen erarbeitete.
Frenzel und Mätzold arbeiteten fortan zusammen: Frenzel entwickelte unter dem Namen „Ergonomics in Motion“ eine Software, die mithilfe der Kamera Kinect von Microsoft dreidimensional Körpergelenke erfasste, Mätzold erarbeitete dazu ein Bewertungsschema auf Grundlage aktueller Ergonomie Richtlinien. BMW setzt das System seitdem in verschiedenen Generationen als Teil seiner betrieblichen Gesundheitsförderung in Werken auf aller Welt ein.
„Das System hilft uns dabei, im gesamten Konzern für Ergonomie am Arbeitsplatz zu begeistern. Beispielsweise nutzen wir es viel, um gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern passende Strategien zur Entlastung des Rückens zu finden – denn das hat sehr viel mit der richtigen Beinstellung zu tun“, so Mätzold, der mittlerweile bei BMW als Gesundheitsmanager arbeitet.
Frenzel hingegen blieb an der HTWK Leipzig und befasste sich weiter mit der Bewegungserfassung: „Die Kinect-Kamera, die wir für ‚Ergonomics in Motion‘ verwendeten, war aus Entwicklersicht ziemlich spannend – aber ursprünglich wurde sie für die Videospielkonsole Xbox entwickelt. Hier fand sie nicht genügend Zuspruch, daher stellte Microsoft die Produktion ein. Schnell wurde uns klar, dass wir uns aus solchen Abhängigkeiten befreien mussten. Also entwickelten wir in den folgenden Jahren am Forschungs- und Transferzentrum der Hochschule Schritt für Schritt ein neues System, das ohne spezielle Kameratechnik funktioniert.“
Bewegungsanalyse mit künstlicher Intelligenz
Gerold Bausch ist Stiftungsprofessor für Eingebettete Systeme und Signalverarbeitung an der HTWK Leipzig und begleitet die Entwicklung von Anfang an aus strategischer Perspektive. Er erzählt: „Im Entwicklungsverlauf ist es uns gelungen, die Software so intelligent zu machen, dass sie Bewegungen in Videos erkennt, die mit herkömmlichen Kameras, also in 2D aufgenommen wurden. Dafür nutzen wir eine Methode der künstlichen Intelligenz: Die Software lernt anhand von vorgegebenen Bilddaten selbst.“
Gerold Bausch (*1979) wurde 2019 auf die Stiftungsprofessur für Eingebettete Systeme und Signalverarbeitung an der HTWK Leipzig berufen. Der promovierte Elektrotechnik-Ingenieur forscht seit 2013 in der Arbeitsgruppe „Laboratory for Biosignal Processing“.
Als Lernmaterial dienen ein digitales Modell des menschlichen Skeletts sowie viele Stunden 3D-Videomaterial, das eine Person bei verschiedenen Bewegungen zeigt. Anders als in den Aufnahmen, anhand derer später Bewegungsabläufe analysiert werden sollen, trägt die Person in den Lernvideos zusätzlich Trackingmarker. Für die Aufnahme solcher Videos stellen sich die Ingenieure im Labor des HTWK-Forschungszentrums oft selbst vor die Kamera.
Aktuell erkennt die Software sicher die vielfältigen Bewegungsabläufe, die in verschiedenen Berufen üblich sind. Aber manche Bewegungen – beispielsweise überwiegend kniende Tätigkeiten wie beim Fliesenlegen – hat das System noch nicht so oft gesehen. „Möchte ein Kunde derartige Bewegungen analysieren, dann geht selbstverständlich auch das – aber wir müssen erst mehr entsprechende Videos ins Lernprogramm der Software aufnehmen. Das Anlernen selbst dauert ungefähr eine Woche“, so Frenzel.
Aus der Forschung in den Markt
Mit der Zeit wurde Humen Dynamics immer bekannter, dabei gab es anfangs noch nicht einmal einen professionellen Vertrieb. So nutzt beispielsweise das österreichische Verpackungsunternehmen Gigant das System, um Arbeitsplätze mit händischen Packprozessen zu analysieren und besser an die Bedürfnisse der Mitarbeiter anzupassen.
Im April 2019 stellte Gerold Bausch das System auf dem „Tag der Ergonomie“ in Mannheim vor. Dabei ergab sich ein Kontakt, der sich als folgenreich erweisen sollte: Christian Brunner vom Institut für Gesundheit und Ergonomie (IGR) in Nürnberg nutzte die Messe, um sich die Technologie anzuschauen. „Davon gehört hatte ich bereits bei Kundenbesuchen – nun wollte ich mir selbst ein Bild machen“, erzählt Brunner. Das auf Ergonomieberatung spezialisierte Unternehmen hat ein ähnliches Produkt entwickelt: „Humen Arbeitsplatzanalyse“, eine Software, die Büroarbeitsplätze auf Grundlage eines Fotos analysiert und die Ergebnisse in Ampelfarben darstellt.
Viele Pläne mit Humen Dynamics
Die Wissenschaftler der HTWK Leipzig und das IGR wurden sich schnell einig: IGR übernimmt ab Herbst 2019 den Vertrieb und bietet das System sowohl als Dienstleistung als auch als Hard- und Software-Paket an. „Das Leipziger System mit seinem Fokus auf dynamische Arbeitsprozesse ist wirklich eine exzellente Ergänzung unseres bisherigen Angebots“, erklärt Brunner. Nach dem bisherigen Kundeninteresse gefragt, zieht Brunner wenige Wochen nach dem Vertriebsstart eine positive Bilanz: „Es laufen bereits Gespräche mit mehreren potenziellen Käufern, der erste Vertrag über eine größere Stückzahl ist so gut wie unterzeichnet.“
Die Forscher von LaBP konzentrieren sich fortan wieder ganz auf die Weiterentwicklung ihres Systems. Pläne gibt es schon genug, wie Bausch verrät: „Derzeit funktioniert unsere Software nur fehlerfrei, wenn höchstens eine Person im Video zu sehen ist. Schön wäre es, wenn künftig auch Videos analysiert werden könnten, auf denen noch weitere Personen zu sehen sind. Außerdem hat uns der Einsatz der Technologie für Trainingsanalysen im Kanurennsport gezeigt: Auch für Anwendungen im Leistungssport könnte Humen Dynamics weiter ausgebaut werden.“
Autorin: Dr. Rebecca Schweier
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2019 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.