Hochschule, so weit das Auge reicht? Lehrgebäude bis hinter das Connewitzer Kreuz und ein Campus so groß wie ein halber Stadtteil - das sahen anno 1970 die Planungen für die „Technische Hochschule Leipzig“ vor. Die TH wurde kurz darauf Realität, die Pläne blieben kühne Vision im DDR-Größenwahn. Ein Streifzug durchs erweiterte TH-Land.
Das Dossier ist wortgewaltig und strotzt nur so vor Genitiven. DDR-typische Schachtelsätze füllen die 24 Seiten der „Vertraulichen Dienstsache 8/70“. Fein säuberlich ist das Entstehungsdatum auf das Deckblatt gemalt: Leipzig, im April 1970. Auf den übrigen Seiten des Dokuments beschreiben dessen Ersteller den gigantischen Wachstum einer Bildungseinrichtung, die es noch gar nicht gibt. Als die Technische Hochschule dann sieben Jahre später tatsächlich gegründet wird, ist vieles hiervon schon vom Tisch. Eine ausgeblichene Kopie liegt im HTWK-Archiv. In den Anlagen befinden sich einige Modellbilder.
„Bis hinter das Connewitzer Kreuz reichten seinerzeit die Bau-Ideen“, sagt Benjamin Schäf, der Archivar der HTWK Leipzig. Er zeigt auf akribische Zeichnungen und abfotografierte 3-D-Modelle. „Heute existieren an der Hochschule nur noch wenige Unterlagen - und die Suche nach Zeitzeugen ist nach fast 50 Jahren nahezu aussichtslos.“ Die Hochschule für Bauwesen (HfB) - quasi historischer Vorgänger der heutigen HTWK-Fakultät Bauwesen - habe seinerzeit einen Mitarbeiter für die Planung beschäftigt, der aber schon damals kurz vor der Rente stand.
Grau war alle Theorie
Vier Bauabschnitte sah die so genannte „Generelle städtebauliche Zielstellung“ vor. Kurz zusammengefasst:
- Bis 1975 sollte die Hochschule für Bauwesen vom Sitz im heutigen Geutebrück-Bau aus gesehen nach Westen wachsen, den Hügel hinunter bis zur Windscheidstraße. Zielzahl Bau-Studierende: 2.500.
- Bis 1985 sollten sich südlich des neuen Gebiets (und damit westlich vom Connewitzer Kreuz) die zur „Technischen Hochschule“ fusionierten universitären technischen Einrichtungen erweitern, mit riesigen Funktionsgebäuden.
- Bis 1995 sollte rund um das Kreuz ein zentraler Bereich entstehen - mit Freiflächen, Rektoratsgebäude, Internat und (zweiter) riesiger Mensa.
- Bis 2000 hätten einige weitere Gebäude den Campus noch ergänzen sollen - für dann 7.000 Studierende und 6.000 Beschäftigte. (Nebenbei: Was für ein Personalschlüssel!)
Rundgang #1: Am Connewitzer Kreuz
Die Beweggründe für Erweiterung, Standortfrage und mutigen Zeitplan werden im Papier intensiv beschrieben (Auszüge siehe unten): Man habe Bildung und Forschung als wesentlich zur Gesellschaftsgestaltung erkannt, etwa „in der Systemauseinandersetzung des Sozialismus mit dem Imperialismus“.
Das verplante Gebiet sei günstig: Bestehende Gebäude könnten sinnvoll einbezogen werden, „Kriegseinwirkungen“ hätten einige Freiräume geschaffen und potenzielle Abbrüche werden mit „teilweise stark überalterter" Bausubstanz gerechtfertigt.
Das große Finale, so räumen die Planer ein, sei „allerdings [nur] unter Preisgabe der zum Teil recht wertvollen Bausubstanz“ möglich.
Rundgang #2: Willkommen im Westend
Prof. Manfred Nietner, von 2003 bis 2006 Rektor der HTWK Leipzig, hat Ende der 60er Jahre in Leipzig promoviert. Ausbau-Gerüchte kursierten zwar in den Hochschulen, Genaues war ihm jedoch nicht bekannt: „Das wäre alles Hörensagen. Ich war da nicht involviert und wusste zu dem Zeitpunkt ja auch nicht, dass ich später in leitender Funktion tätig sein würde.“
Derweil sah das Konzept durchaus charmante Campus-Bestandteile vor: eine ausgedehnte Fußgängerzone (rund um die heutige Kochstraße), ein unterirdisches Straßensystem mit Anlieferpunkten für die Mensa und Tiefgarage (unter besagter Kochstraße) und eine S-Bahn-Linie auf der Karl-Liebknecht-Straße.
Und aus heutiger Sicht in punkto Familienfreundliche Hochschule wohl ein ganz wunderbarer Baustein: ein eigener Kindergarten! Der wäre dort entstanden, wo heute Polizeiautos parken.
Rundgang #3: An der Westseite dann die Promenade runter
Immerhin: Erste Phase ernsthaft im Gespräch
Das ganze Modell war eines von vielen typischen Wolkenkuckucksheimen damaliger Prägung. „Immerhin“, weiß Dr. Jochen Staude, „war der erste Teil der Planungen ernsthaft im Gespräch - auch noch etliche Jahre später keimte das gelegentlich auf.“ Staude, heute Schriftführer des HTWK-Fördervereins, war damals zu HfB-Zeiten Assistent in der Sektion Bauingenieurwesen sowie Mitglied in der Stundenplan- und in der Raumkommission - und kannte zumindest die Ideen, die westwärts an der Richard-Lehmann-Straße als erstes umgesetzt werden sollten. Wo heute ein Kindergarten und ein Discounter angesiedelt sind, standen seinerzeit die Gewächshäuser und Verkaufsräume der Gärtnerei Fahr.
„Perspektivisch schienen die Pläne eigentlich sinnvoll - aber schon damals wusste jeder, dass das lang dauern würde und - nun ja - eben eine Menge Geld kosten dürften, das man nicht hatte", meint Staude augenzwinkernd. „Die Gärtnerei umsiedeln, das wäre wohl gegangen. Enteignungen oder der Tausch von Gelände waren schließlich nicht das Problem.“ An den Familienbetrieb Fahr erinnert sich der 75-Jährige noch gut: „Die haben uns bei vielen offiziellen Anlässen mit Blumenschmuck beliefert!“
Rundgang #4: Willkommen (zurück) in der Realität
Ins Konzept geschaut: Originalauszüge
Aha! Das Motiv!
„Hochschulen, Erziehung, Ausbildung und Forschung in der DDR spielen im Prozeß der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, bei der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution und in der Systemauseinandersetzung des Sozialismus mit dem Imperialismus eine qualitativ neue Rolle.“
Messlatte hoch gelegt
„[..] weitere tiefgreifende qualitative Veränderungen und quantitative Erweiterungen umfassend und schnell in Angriff zu nehmen.“
Gemeinsam stark
„Dabei ist beabsichtigt, daß ab 1975 (2. Bauabschnitt) die Ingenieurhochschule Leipzig dem bis zu diesem Zeitpunkt errichteten Gebäudekomplex räumlich und funktionell angegliedert wird. Darüberhinaus soll die Deutsche Bauakademie als verwandte Institution in die Planung einbezogen werden. Das heißt, daß für alle genannten wissenschaftlichen Institutionen ein gemeinsames Forschungszentrum mit den dazugehörigen zentralen Einrichtungen zu planen ist.“
„Zu einem späteren Zeitpunkt sollen die aus den Hochschulen hervorgegangenen Sektionen zu einer Technischen Hochschule zusammengeführt werden.“
Unterirdische Planung
„Die Bereiche des zweiten, dritten und vierten Bauabschnittes können durch ein unterirdisches Straßensystem, von dem aus alle Wirtschaftsbereiche und die Tiefgarage unter dem Forum erreichbar sind, erschlossen werden.“
Im Osten geht die Sonne auf - aber mehr nicht!
„Eine Erweiterung wäre [...] nach Norden, Westen oder Süden denkbar. Eine Ausdehnung des Hochschulbereiches über die Karl-Liebknecht-Straße hinaus nach Osten ist nicht zu vertreten.“
Ein verrücktes Kreuz
„Das Connewitzer Kreuz, das letzte der vier im Jahre 1536 errichteten Weichbildzeichen der Stadt Leipzig, sollte nach der Neubebauung in der Nähe seines jetziges Standortes wieder aufgestellt werden.“
(Autor: Reinhard Franke)