Dr. Reinhard Böhm studierte 1970-1974 Technische Kybernetik (Automatisierung) an der Ingenieurhochschule Leipzig (heute: Fakultät Ingenieurwissenschaften, Standort Wächterstr.). Danach arbeitete er an verschiedenen leitenden Positionen bei der Verbundnetz Gas und war daran beteiligt, diesen DDR-Großbetrieb als einen der wenigen nach 1990 erfolgreich in die neue Wirtschaftsordnung zu überführen. Nebenbei promovierte er an der Technischen Hochschule Leipzig und war zuletzt Vorsitzender des Kuratoriums der HTWK Leipzig. Über nötige Vorbereitungskurse, die Energiewende und die Digitalisierung von 1976 berichtet er im Alumni-Interview.
Wie kamen Sie zum Studium nach Leipzig?
Reinhard Böhm: Ich war schon immer technisch interessiert, habe nach dem mittleren Schulabschluss Betriebs-, Mess-, Steuerungs- und Regelungstechniker gelernt. Und danach standen mir 45 Berufsjahre bis zur Rente bevor, in einem VEB der chemischen Grundstoffindustrie. Verschlissene, umweltschädigende Produktionsanlagen, keine Chance auf Verbesserungen. Ich bewarb mich um einen Studienplatz und bekam die Zusage zu einem Hochschulstudium der Technischen Kybernetik an der neu gegründeten Ingenieurhochschule Leipzig. Da kniete ich mich in die nötigen Vorbereitungskurse in Mathe, Physik und in dieser Zeit besonders `wichtig`, Marxismus-Leninismus und kam zum Wintersemester 1970 nach Leipzig.
Was waren prägende Erinnerungen im Studium?
Reinhard Böhm: Die Hochschulen wurden damals in der DDR stark ausgebaut, die waren auf so viele Studenten, wie sie aufnehmen sollten, gar nicht vorbereitet: Im Wohnheim in der Friederikenstraße wurden Klassenräume einer ehemaligen Berufsschule zu Schlafräumen umgebaut, wir wohnten dort zu sechs und acht Personen, hatten ausgemusterte NVA-Spinde und Strohsäcke in den Betten, das will man sich nicht mehr vorstellen. In der heutigen Wächterstraße war der oberste Stock noch kriegsbeschädigt, wir lernten dort in Räumen, die im Winter nur schlecht beheizbar waren. Um dann 1974 das Ergebnis meiner Abschlussarbeit auf einem Plotter zu zeichnen, fuhr ich mit dem Programm – auf Lochkarten übrigens – nach Berlin. In Leipzig gab es kein solches Zeichengerät.
Das klingt ja nicht nach den besten Studienbedingungen.
Reinhard Böhm: Aber die Profs, das waren ganz tolle Leute. Was die an Technik nicht hatten, haben sie mit Papier, Kreide und Engagement wettgemacht, etwa Dr. Singer und Dr. Fritsche in Physik, oder die Tafelbilder von Prof. Schäfer in Mathe. In meinem Jahrgang gab es viele wie mich, die schon im Berufsleben standen und genau wussten, warum sie unbedingt studieren wollten. Wer direkt vom Abitur kam, der hatte es erstaunlicherweise etwas schwerer, den Ernst des Studiums zu erkennen.
Wie ging es nach dem Studium für Sie weiter?
Reinhard Böhm: Ich habe nach meinem Diplom 1974 als befristeter Assistent an der Hochschule gearbeitet. Ein Jahr später wurde die Familie größer und das Geld knapp – da eröffnete sich die Chance, beim VEB Verbundnetz Gas anzufangen. Dieser Betrieb war für den Transport und die unterirdische Speicherung der Gasmengen in der DDR zuständig, also auch für das Erdgas, das seit 1973 über die neuen Pipelines aus Russland angeliefert wurde. Damals hatte der Begriff Energiewende eine ganz andere Bedeutung.
Was waren damals die Herausforderungen?
Reinhard Böhm: Wir haben Ende der 1970er Jahre in der real existierenden Mangelwirtschaft die Fernsteuerung der Gastransport- und Speichersysteme von analoger auf digitale Technik umgestellt, sozusagen Digitalisierung 1.0. Auf diesem Gebiet habe ich dann auch mein Promotionsthema gefunden – meine Alma Mater in der Wächterstraße hieß inzwischen Technische Hochschule Leipzig und hatte Promotionsrecht. Die Verteidigung der Promotion war zu Ostern 1989 im Raum 08. Dort finden heute noch die Verteidigungen von Abschlussarbeiten statt.
Die VNG ist einer der wenigen Betriebe, die nach 1989 erfolgreich den Sprung in die Marktwirtschaft geschafft haben. Wie ist Ihnen das gelungen?
Reinhard Böhm: Das war ein verrückter Prozess, da gibt es auch viele Legenden. Wir haben uns ganz früh um die Privatisierung gekümmert und mit der Treuhand gesprochen. Schon im Juni 1990, noch vor der Währungsreform, starteten wir als Verbundnetz Gas AG. Wir hatten strategische Investoren aus dem Westen an Bord, zwei Gasversorger, die uns hervorragend beraten haben. Die Leute dort waren Idealisten und am Erfolg der VNG AG und der deutschen Einheit interessiert, denen ging es nicht nur ums Geld. Die prüften und meinten, unsere Techniker wären perfekt – sie schickten uns ergänzend hochkarätige Juristen und Kaufleute zur Unterstützung. Die hatten wir bitter nötig, Konkurrenz oder das Verhalten von strategischen Konkurrenten uns gegenüber, das kannten wir ja nicht. Bis dahin wurde das vorhandene Gas an die Verbraucher verteilt! Auf einmal mussten wir es auch einkaufen und verkaufen. Das war eine völlig andere Welt.
Wie war Ihre Verbindung zur Hochschule nach der Wiedervereinigung?
Reinhard Böhm: Damals wurde die HTWK gegründet, und der Kontakt zwischen VNG AG und Hochschule wurde stärker. Ich wurde ins Kuratorium der HTWK berufen, eine Art Aufsichtsgremium, das bis 2009 bestand.
Dort waren Sie auch viele Jahre Vorsitzender. Wofür haben Sie sich engagiert?
Reinhard Böhm: Ich wollte vor allem die Verbindungen zwischen Wirtschaft und HTWK stärken, habe mit vielen Professoren, etwa Kubessa, Agsten oder Wenge, sowie den Rektoren Steinbock, Nietner und Milke zusammengearbeitet. Ich bin dankbar, dass sich die Kontakte in die Energiebranche so gut entwickelt haben. Wir als Kuratorium haben den Bolognaprozess begleitet, sahen aber die Abschaffung des Diploms kritisch. Das war ein deutsches Markenzeichen. Gleichzeitig wollten wir unbedingt das Promotionsrecht für unsere Hochschule zurück.
Seien Sie versichert, am Promotionsrecht arbeiten wir weiterhin. Was meinen Sie zur heutigen Energiewende?
Reinhard Böhm: Da geht es immer um Elektro und Elektro, aber Gas, grüne Power-to-Gas-Technologien, Gasmobilität, synthetische Kraftstoffe, Technologie- und Energiemix, die sind mir noch viel zu unterbelichtet. Ganz klar ist, es gibt keine einfachen Antworten: Polizisten, die die Fridays-for-future-Demos absichern, werden mit Diesel hin- und zurückgefahren, und die Demonstranten kommunizieren über Handys aus fragwürdigen Rohstoffen. Wir müssen da zu einer maßvollen Debatte zurück. Ob in technischen oder gesellschaftlichen Fragen, bei einfachen Antworten werde ich schnell skeptisch.
(Stand: Januar 2020)