Architektinnen und Theaterwissenschaftlerinnen erforschen, wie sich das Verhältnis von Architektur, Stadt und Theater seit den 1960er Jahren ändert.
Die Theaterlandschaft in Deutschland ist einzigartig. Laut dem Deutschen Bühnenverein gibt es hierzulande mehr als 840 Theater – so viele wie in keinem anderen Land. Hinzu kommen weitere Einrichtungen der sogenannten freien Szene sowie kleine und große Festivals. Die unterschiedlich genutzten Räume spielen bei der Ausgestaltung und Form der Theateraufführungen eine ganz besondere Rolle. „Wir wollten deshalb herausfinden, wie die Theaterbauweise seit den 1960er Jahren die Spielformen und szenischen Praktiken, aber auch die urbane Verortung beeinflusst hat“, erklärt Annette Menting, Professorin für Entwurfsorientierte Baugeschichte und Baukultur an der HTWK Leipzig.
Seit 2016 leitet sie in Kooperation mit Barbara Büscher, Professorin für Theater- und Medienwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, das Forschungsprojekt „Architektur und Raum für die Aufführungskünste. Entwicklungen seit den 1960er Jahren“. Gefördert wird das transdisziplinäre Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Es verbindet Architekturgeschichte und -theorie mit Theater- und Medienwissenschaft. Mehrere wissenschaftliche Mitarbeiterinnen beider Einrichtungen bearbeiten es.
Wie das Theater als Raum in den Blick von Architekturforschenden gelangte, ist leicht erklärt: Heute – mehr als 50 Jahre nach der letzten großen Theaterneubauphase – müssen die meisten Theaterhäuser modernisiert werden. Der Umgang mit Bestandsgebäuden sowie der Denkmalschutz und die Sanierung von Bühnen-, Klima- und Gebäudetechnik bestimmen die Diskussionen. „Heute geht es nicht allein darum, ein möglichst technisch innovatives Theater zu gestalten, sondern durch die Um- oder Neubauten die Identität einer Stadt zu erhalten oder diese dadurch zu verändern“, so Menting.
Vom starren Theaterraum zur flexiblen Halle
Zu Beginn des Projekts erarbeitete das Team erstmals einen Überblick über alle Spielstätten in Deutschland. Dafür werteten die Forscherinnen die Theaterstatistik, das Bühnenjahrbuch und mehrere Dekaden von Fachzeitschriften aus. Dabei registrierten sie die große Anzahl an Spielstätten mit ihren verschiedenen Formen wie Schauspiel, Oper und Ballett und analysierten, wie sich die Theaterbauten im Laufe der Zeit verändert haben. So wurde der Großteil der Aufführungsorte nach dem Zweiten Weltkrieg saniert oder neu gebaut. Seit Ende der 1960er Jahre wurden jedoch kaum noch Theater errichtet. Einerseits waren die meisten Städte inzwischen mit Theatern ausgestattet, andererseits wurden Räume nun anders genutzt. Gerade kleinere und mittlere Städte errichteten Mehrzweckhallen, um dort auch Bildungs- und Sportveranstaltungen oder andere Feierlichkeiten durchführen zu können. „Die Kultur hatte sich in dieser Zeit gewandelt. Massenmedien wie Fernsehen und Kino gewannen an Bedeutung. Auch das zunehmende Interesse am Museumsbau seit den 1970er Jahren drängte Theater zurück“, erklärt Menting.
Schließlich entwickelte sich seit den 1960er Jahren auch die sogenannte freie Szene. Im Gegensatz zu den etablierten Theatern verfolgte sie unkonventionelle Konzepte, bezog das Publikum in die Aufführungen mit ein und eignete sich neue Räume wie leerstehende Fabrikhallen an. Diese sollten vor allem möglichst flexibel sein. Beispielsweise sollte der Bühnen- und Zuschauerbereich variabel aufgebaut werden können, damit sich die Atmosphäre im Aufführungssaal ändern und die Schauspielerinnen und Schauspieler mit den verschiedenen Anordnungen experimentieren können.
Von Umbau bis Abriss
Wo und wie Kulturorte platziert werden, ist vor allem für die Stadtplanung eine zentrale Frage, argumentiert Menting, und verweist auf die identitätsstiftende Wirkung für Bürgerinnen und Bürger und die besondere Relevanz für den Tourismus. Die Forscherinnen untersuchten deshalb die Theaterlandschaft einiger Städte genauer. Dadurch konnten sie zeigen, wie viele Spielstätten es dort gibt, welche Theaterformen sich gebildet haben und was an den jeweiligen Orten außergewöhnlich ist.
Eine lange und traditionsreiche Theatergeschichte hat beispielsweise Frankfurt am Main vorzuweisen. Bereits 1782 wurde dort die erste Spielstätte errichtet. Mittlerweile gibt es über 20 Einrichtungen. Die Städtischen Bühnen Frankfurt bilden heute einen der größten Theaterbetriebe in ganz Deutschland. Seit einigen Jahren wird in der hessischen Metropole aber genau um dessen Erhalt gestritten. Anfang 2020 beschloss das Stadtparlament nun, das gemeinsame Gebäude von Theater und Oper im Stadtzentrum abzureißen, weil die Sanierung teurer wäre als ein Neubau. An dessen Stelle soll ein Hochhaus errichtet und so der Neubau – am Stadtrand von Frankfurt – finanziert werden. Dabei gilt das Doppelgebäude von 1963 als einer der wichtigsten Nachkriegsbauten der Stadt. „Es gibt viel Widerspruch, weil möglicherweise die Identität im Stadtzentrum verloren geht“, so Menting.Anhand ausgewählter Aufführungsorte aus ganz Deutschland erstellte das Forscherteam zudem Fallstudien. An diesen zeigten sie, wie sich die Theater und mit ihnen die Aufführungsräume und Spielformate veränderten, aber auch wie die Theater die urbane Identität prägen. Für die Fallstudien recherchierten die Forscherinnen in Archiven, besichtigten die Gebäude vom Keller bis zum Dach und führten Gespräche mit den Bauherrinnen und Bauherren, den Theaterleuten und den Architektinnen und Architekten. „Beim denkmalgeschützten Schauspielhaus in Düsseldorf, das zum 50. Jubiläum sorgfältig instand gesetzt wurde, konnten wir erleben, wie sich der Ort dem Publikum stärker öffnet: Ergänzend zu den regulären Spielzeiten am Abend hat es sich auch tagsüber zu einem Ort der Begegnung gewandelt“, so Menting. Äußerlich verändert hat sich hingegen das Staatstheater in Darmstadt. In den 1960er Jahren wurde es mit Parkplätzen bis vor das Foyer autogerecht gebaut, wie ein Drive-in-Theater. Mit der Umgestaltung ist anstelle des Parkplatzes ein urbaner Platz entstanden, der Passantinnen und Passanten zum Verweilen einlädt. Sowohl der Umbau als auch die nun bessere Anbindung des Theaters an den öffentlichen Nahverkehr wirken damit auch auf das Stadtbild.
Neue Fragestellungen für Folgeprojekt
Einige ihrer Ergebnisse publizierten die Forscherinnen bereits in Fachzeitschrift en wie der „Bühnentechnischen Rundschau“, auf ihrer Projektwebsite oder in der zehnten Ausgabe des Online-Journals „MAP“, welche von Büscher und Menting herausgegeben wurde. Aktuell bereitet das Team weitere Publikationen zur Theaterlandschaft in Deutschland sowie zu den Fallstudien vor. Aus den bisherigen Recherchen haben sich für die Forscherinnen weitere Fragestellungen ergeben, die sie in einer Projektfortsetzung bearbeiten werden. Welche Bedeutung haben beispielsweise Denkmalpfl ege und Industriebaukultur beim Gestalten neuer Theater? Auch wollen sie kulturelle Einrichtungen im ländlichen Raum in den Fokus rücken, nachdem sie bisher vorwiegend Städte im Blick hatten.
Prof. Dr. Annette Menting (*1965) ist seit 2000 Professorin für Entwurfsorientierte Baugeschichte und Baukultur an der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften der HTWK Leipzig. Die Architekturhistorikerin forscht und publiziert zur Architekturgeschichte der Moderne, Denkmalpflege und zeitgenössischen Baukultur.
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2020/21 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.