Wie geht es unseren internationalen Studierenden in diesen Zeiten?
Zum Start des Wintersemesters haben auch in diesem Jahr wieder mehr als 1.800 Erstsemester ein Studium an unserer Hochschule begonnen – für alle der Start in ein neues Leben. Knapp 13 Prozent – das sind mehr als 800 – der insgesamt rund 6.500 immatrikulierten Studierenden an der HTWK Leipzig kommen aus dem Ausland. Wie beginnen die internationalen Studierenden ihr Studium an unserer Hochschule? Mit welchen Fragen kommen sie hierher? Im Gespräch mit Juliane Keil, beim Dezernat Studienangelegenheiten Ansprechpartnerin für internationale Bewerbende und Studierende.
FP: Wir leben in einer Zeit der Krisen. Das spüren vermutlich Sie ganz besonders in Ihrer täglichen Arbeit. Was hat sich aus Ihrer Sicht am meisten verändert in der letzten Zeit, vor allem seit Februar, als Russland die Ukraine angegriffen hat?
JK: Grundsätzlich haben sich meine Aufgaben nicht geändert: Studienorientierung, Bewerbungen, Studienstart – ich kümmere mich um den kompletten sogenannten „Student Life Cycle“ für die Gruppe der internationalen Studierenden an der HTWK Leipzig. Doch die Schwerpunkte haben sich verlagert. Mit der Fluchtbewegung 2015, die zwei Jahre später dann an der Hochschule ankam, stieg die Zahl syrischer Bewerberinnen und Bewerber an. Viele kamen ohne Zeugnisse, sie hatten eine Flucht hinter sich, unser Bildungssystem war für sie völlig fremd, Finanzierung ist immer ein Thema. Seit 2015 haben wir 238 syrische Studierende als Haupthörende immatrikuliert. Derzeit sinkt die Zahl erstmals wieder.
Analog lief es dann zu Beginn und Mitte dieses Jahres mit den Studieninteressierten aus der Ukraine. Auch hier kamen mit einem Mal mehr als 350 junge Menschen, um sich darüber zu informieren, wie sie möglichst schnell ihr Studium fortsetzen oder eines beginnen können. Was viele nicht wissen: An der HTWK informierten sich mehr sogenannte „Drittstaatsangehörige“, die in der Ukraine schon internationale Studierende waren, als ukrainische Staatsangehörige. Diese kommen vor allem aus Nordafrika und Nigeria.
Jetzt wird es zunächst etwas ruhiger, denn die meisten müssen erst einmal Deutsch bis zum Niveau C1 ("fortgeschrittenes Kompetenzniveau" lt. europäischem Referenzrahmen; die Niveaus steigern sich von A1-C2) lernen, um ein Studium in Leipzig aufnehmen zu können oder das Studienkolleg zu besuchen. An der HTWK finden auch zwei studienvorbereitende Deutschkurse statt, an denen vor allem Betroffene des Krieges gegen die Ukraine teilnehmen. Wenn die Situation so bleibt, wird es ab dem nächsten Wintersemester voraussichtlich zu noch größeren Bewerbungszahlen dieser Gruppe kommen.
Viele suchen vor allem persönlichen Rat, nicht nur auf das Studium bezogen. Eigentlich läuft es immer auf eine „ganzheitliche“, eine Lebensberatung hinaus, wenn man so will. Viele internationale Studierende leben in einer schwierigen Gesamtsituation: Kulturschock, das Vermissen von oder die Sorge um Familie, Freundinnen und Freunden im Herkunftsland, kaum ein soziales Netz in Deutschland, Finanzierungsschwierigkeiten. Die Corona-Pandemie und die derzeitige Inflation haben die finanzielle Situation auch und insbesondere für internationale Studierende mit Visum erheblich erschwert, denn anders als geflüchtete Studierende haben sie keinen Anspruch auf BAföG und können auch sonst keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Sie müssen ihr Studium vollkommen selbstständig finanzieren.
FP: Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?
JK: Ich berate ergebnisoffen. Das bedeutet, ich schaue mir gemeinsam mit der ratsuchenden Person verschiedene Wege an und zeige Möglichkeiten und Varianten auf, doch letztlich muss der oder die Betroffene natürlich selbst entscheiden, welchen Weg er oder sie wählt. Diesen Entscheidungsprozess begleite und unterstütze ich durch meine Erfahrungen und mein Wissen. Meine Arbeit ist von sehr betreuungsintensiven Beratungsprozessen bestimmt. Durch meine Erfahrung weiß ich auch, wie ich Leute „nehmen“ kann. Transparenz ist wichtig, dass man Dinge deutlich macht und ausspricht. Und: Mit Humor, wo er passt, läuft vieles leichter. Doch natürlich bin ich auch mal die Überbringerin schlechter Nachrichten, wenn nicht alle Erwartungen erfüllt werden können.
Die Herausforderung ist der schmale Grat zwischen „Überversorgung“ und Hilfe zur Selbsthilfe. Das Loslassen fällt mir manchmal schwer. Mich interessiert natürlich, wie es mit dem jeweiligen Menschen weitergeht, welcher Weg gewählt wird und wie sich der Studienverlauf entwickelt. Es läuft gut, wenn ich nach einigen Beratungen nichts mehr höre – dann weiß ich, es läuft! Denn es ist wie überall: Wem es gut geht, der meldet sich nicht, der schafft das.
Es kommt auch viel zurück. Es ist toll zu sehen, wenn jemand, der oder die einige Schwierigkeiten im Studium bewältigt hat, es dann erfolgreich abschließt. Manchmal machen aber auch andere Wege glücklich. Sich letztendlich dann doch gegen ein Studium zu entscheiden, öffnet manchmal andere Türen, wie zum Beispiel zu einer Ausbildung.
FP: Welche „Trends“ in Ihrer Tätigkeit gibt es?
JK: Neu ist seit der Pandemie: Die direkte, persönliche Beratung hat abgenommen, stattdessen werden gern andere Kommunikationswege genutzt wie Emails und Telefonate. Es kommt mir so vor, als wären die Sprechzeiten vor der Pandemie voller gewesen. Jetzt meldet sich eher mein Postfach. Was ich auch feststelle, und das ist ein wichtiger Punkt: Die Gespräche sind zeitintensiver geworden. Die Dauer schwankt zwischen mindestens 30 Minuten bis zu einer, manchmal auch anderthalb Stunden. Grundsätzlich kann ich aber sagen: An den Aufgaben hat sich nicht so viel geändert, aber an der Quantität, der Anzahl der Aufgaben bzw. Anfragen.
Insgesamt versuchen wir auch in Kooperation mit der Sozialberatung des Studentenwerks Leipzig und der Stabsstelle Internationales der Universität den häufig ähnlichen Anfragen zu begegnen, indem wir gemeinsame (online) Veranstaltungen organisieren und an externen Veranstaltungen teilnehmen. Meiner Meinung nach unser schönstes und auch größtes gemeinsames Projekt ist der seit 2018 jährlich an der HTWK stattfindende Studieninformationstag für internationale und geflüchtete Studieninteressierte, an dem die Leipziger Hochschulen, die Universität Halle und die Hochschule Merseburg sowie andere Akteure und Akteurinnen teilnehmen. Mir ist in Deutschland bisher kein Projekt dieser Größe bekannt. (Hinweis: Der nächste Infotag ist für den 05. Mai 2023 geplant.)
FP: Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit?
In erster Linie, dass wir weniger auf Defizite schauen, sondern Diversität generell mehr leben. Dass wir es wertschätzen, wenn Menschen in einer Fremdsprache studieren – das verdient unseren größten Respekt! Dass wir öfter sehen, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft auch neue Erfahrungen und Perspektiven – nicht nur ins Fachstudium – einbringen.
Ich würde mir auch wünschen, dass wir versuchen, die Gruppe internationaler Studierender anders wahrzunehmen. Wie auch die politische Lage ändert sich auch die Aufmerksamkeit der Medien und manchmal auch hier an der Hochschule. Der Krieg gegen die Ukraine hat ein hohes Maß an Mitgefühl und auch aktiver Unterstützung für die betroffenen Menschen hervorgebracht. Ich muss nicht betonen, dass das toll ist. Gleichzeitig haben wir aber weiterhin andere internationale Studierende, einige quasi in permanenter finanzieller oder sozialer Not. Im letzten halben Jahr habe ich nicht selten Gespräche mit Studierenden zu einer wahrgenommenen oder befürchteten Angst vor Ungleichbehandlung geführt.
Kurzum: Einen guten Weg zu finden ist sicher nicht einfach. Fest steht: die individuelle Situation sollte nie außer Acht gelassen und voreilig pauschalisiert werden. Wir möchten möglichst alle Studierenden gemeinsam zum Studienabschluss führen.
Zur Person
Juliane Keil stammt aus Sachsen. Von 2010 bis 2016 studierte sie „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ an der Universität Leipzig. Danach arbeitete sie als Dozentin im Bereich Deutsch für den Beruf, u.a. bei BMW Leipzig, und als pädagogische Mitarbeiterin im Projekt „PerF“ – Perspektiven für Geflüchtete. Ab 2017 war sie als Projektmitarbeiterin in der Studienberatung für Geflüchtete an der HTWK Leipzig beschäftigt, seit 2021 ist sie Sachbearbeiterin für internationale Studierende.