Ein interdisziplinäres Forschungsteam ergründet die „Heiligen Landschaften“ Duklja und Raszien
Mit Wanderschuhen, historischen Karten und Satellitenbildern gewappnet geht eine Forschungsgruppe in den Wäldern von Südost-Montenegro auf längst nicht mehr betretenen Pfaden. Sie sind auf der Suche nach Ruinen von Kirchen und Klöstern, die dort einst die Landschaft prägten. Auf ihren Wanderungen werden sie oftmals fündig: Überwucherte Straßen- und Mauerreste zeugen von ehemaligen Verkehrsverbindungen, Plätzen und religiösen Bauten.
Diese Spuren der Vergangenheit dokumentiert Johannes Tripps. Der HTWK-Professor für Kunstgeschichte der Materiellen Kultur ist gemeinsam mit einem zwölfköpfigen interdisziplinären Team aus den Bereichen Byzantinistik, Mittelalterliche Geschichte, Historische Geographie, Geographie und Geokommunikation auf der Suche nach Belegen für die Forschungshypothese: Die beiden historischen Regionen Duklja und Raszien, die Teil der römischen Provinz Illyrien waren, seien „Heilige Landschaften“. Das sei mit dem Dasein als Jahrtausende währende Pufferzone zwischen zwei Großmächten – dem Byzantinischen Reich und dem lateinischen Westen – zu erklären, die jeweils mit der Förderung ihrer Religion an Einfluss zu gewinnen versuchten. Das Resultat ist eine immense Anzahl religiöser Gebäude und eine bis heute währende Religionsvielfalt.
Im Gegensatz zu anderen Gegenden hoher religiöser Bedeutung wie dem Jordantal oder dem Berg Sinai sind diese Regionen auf dem Balkan bisher kaum erforscht. Das wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der HTWK Leipzig, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Universität Wien und der Universität Belgrad ändern: Sie sichten seit 2020 historische Schriften und Karten, sammeln geografische Daten per Drohnenaufnahmen und Satellitenbildern und verstetigen die Kenntnisse auf Feldforschungsreisen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der österreichische Wissenschaftsfonds (FWF) fördern das internationale Projekt bis Herbst 2023. „Die Zone stand bisher kaum im Mittelpunkt der Forschung, weder von der östlichen noch von der westlichen Seite. Wir wollen die Kirchen und Klöster vom 11. bis ins frühe 14. Jahrhundert genauer bestimmen und die herausragende Rolle dieser Gegend als Schmelztiegel der Religionen und als Pufferzone zwischen dem Byzantinischen Reich und dem lateinischen Westen hervorheben“, erläutert Tripps.
Die Spaltung Europas
Im Jahre 395 n. Chr. wurde das Römische Reich administrativ in eine westliche und eine östliche Hälfte geteilt. Es begann eine schleichende Spaltung Europas und die Bildung zweier kirchlicher Zentren mit Rom im Westen und Konstantinopel (heute Istanbul) im Osten. Mit der Zeit wurden die Differenzen zwischen dem Papst in Rom und dem Patriarchen von Konstantinopel größer. Als sie sich 1054 n. Chr. gegenseitig exkommunizierten, spaltete sich die christliche Kirche beim sogenannten Großen Schisma in die katholische und die orthodoxe Kirche.
Informationen im räumlichen Kontext
Ziel der Forschungen ist eine moderne wissenschaftliche Datenbank samt Online-Kartenapplikation mit geografischem Informationssystem (GIS). Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können ihre Forschungsdaten aus den schriftlichen Quellen, zu Denkmälern und Kunstgegenständen mittels GIS in einen räumlichen Kontext einbetten. „Da die untersuchten historischen Regionen bemerkenswerten Transformationsprozessen ausgesetzt waren, bietet dieses Forschungsprojekt großes Potenzial sowohl für Visualisierungen als auch für die Formalisierung durch GIS-Daten“, erläutert Projektpartner Dr. Mihailo Popović, Dozent und Historischer Geograf vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW: „Wir nutzen das Projekt, um Standards für eine moderne Erfassung, Verwaltung und Analyse wissenschaftlicher Daten zu definieren.“ Die Forschenden erstellen eine digitale Oberfläche des Gebiets und setzen dort einzelne Punkte für die Stätten. Beim Klick auf die Punkte erscheinen Literaturangaben und Fotos zum Objekt und seiner erhaltenen Ausstattung. „Das ist unser Beitrag an die Wissenschaftscommunity, denn abschließend werden wir alles als Open-Source-Datenbank freischalten“, stellt Tripps für Ende 2023 in Aussicht.
Von Schatzkammern und Kronen
Die Forschenden suchen nicht nur nach alten Mauerresten und Wegen, sondern können auch zahlreiche intakte Kirchen und Klöster besuchen. Deren Ausstattung und Schatzkammern sind für Tripps als Kunstgeschichtler mit dem Schwerpunkt Materielle Kultur besonders interessant. Gemeinsam mit seiner Kollegin von der Universität Belgrad Assistenz-Professorin Branka Vranešević dokumentiert er die Bestände, während Moisés Hernández Cordero vom Österreichischen Archäologischen Institut der ÖAW mittels transportablem Scanner Maß nimmt.
Dabei stößt Tripps im montenegrischen Kloster des Heiligen Petar von Cetinje auf eine Krone aus der Dynastie der Nemanjiden, die seine Aufmerksamkeit weckt: Sie wurde bisher als die Krone von Stefan Uroš III. Dečanski bezeichnet. Er war von 1321 bis 1331 serbischer König und wurde von der orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Bisher hatte die Forschung diese Krone in die 1320er Jahre datiert. „Das kam mir merkwürdig vor, denn die Schliffe der Edelsteine der Krone waren neuzeitlich. Genauere Recherchen und Vergleiche mit der russischen Goldschmiedekunst ergaben, dass die Krone in ihrem heutigen Aussehen nach 1834 entstanden sein muss. Ihre ältesten Bestandteile stammen aus dem 17. Jahrhundert – es kann sich also nicht um die Krone dieses serbischen Königs handeln. Höchstwahrscheinlich ist das Original bereits verschollen.“
Die Dynastie der Nemanjiden
Durch den Fürsten Stefan Nemanja gegründet, regierte das Herrscherhaus von 1167 bis 1371 das mittelalterliche Serbien. Unter ihm wurde Serbien zum Königreich und war militärisch, politisch und kulturell die dominierende Macht auf dem westlichen Balkan. Besonders nach Venedig pflegten die Nemanjiden unter anderem durch Heiratspolitik enge Verbindungen. Der venezianische Einfluss ist noch heute in liturgischen Gegenständen gut nachzuvollziehen. Stefan Nemanjas Sohn – der Heilige Sava – wurde der erste Erzbischof von Serbien und begründete damit 1219 die serbisch-orthodoxe Kirche.
Pufferzone und Schmelztiegel
Erkenntnisse wie diese sind Ergebnisse der intensiven Forschungsarbeit des internationalen Teams, das die Geschichte zweier Regionen aufarbeitet, die von zahlreichen Einflüssen geprägt sind. Beim Austausch zwischen West und Ost spielten die Adria und das Hinterland auf dem Balkan eine wichtige Rolle: hier gab es Berührungspunkte, vermischten sich Familiendynastien und Kunststile. Kirchlich gehörte diese Region bis zum 8. Jahrhundert zunächst zur katholischen Einflusssphäre, doch die orthodoxe Kirche weitete ihren Einfluss ebenfalls in dieses Gebiet aus. Ab dem 7. Jahrhundert konnten sich schließlich stufenweise zwei serbische Fürstentümer namens Duklja und Raszien etablieren. Duklja lag an der Küste und war stärker dem westlichen Machtfeld ausgesetzt. Raszien, im Landesinneren weiter östlich gelegen, war in der Einflusssphäre von Konstantinopel. Diese beiden Fürstentümer wurden schließlich ab dem 12. Jahrhundert von der Dynastie der Nemanjiden politisch vereint.
Nebeneinander der Religionen
Für die Erforschung dieser Heiligen Landschaften sind die vielen sakralen Gebäude, die zwischen der Spätantike und dem Aufkommen des Osmanischen Reichs entstanden, zentral. Aufschlussreich ist dabei, wer welche Gebäude stiftete und welcher Konfession sie einst und heute angehörten: römisch-katholisch, serbisch-orthodox oder muslimisch. „Je nach Herrscher und Diplomatie war mal die eine, mal die andere Religion federführend. Sollte eine Einflussmacht und damit ihre Religion an Einfluss gewinnen, förderte der jeweilige Herrscher diese mit dem Stiften neuer Kirchen und Klöster. Keiner der Herrscher zwang die Bevölkerung dabei, eine Religion anzunehmen. Es galt kein Entweder-oder, sondern ein Nebeneinander. So wurde diese Zone, die immer wieder zwischen Ost und West changierte, mit ihrer wachsenden Zahl sakraler Gebäude regelrecht zu einer Heiligen Landschaft“, erläutert Tripps. Mit dem Dasein als Jahrtausende währende Pufferzone zweier Großmächte und dem Entstehen eigener regionaler Identitäten ist zu erklären, warum Serbien und Montenegro einen multireligiösen und damit multikulturellen Hintergrund haben. Auch wenn nunmehr ein Großteil der Bevölkerung serbisch-orthodoxen Glaubens ist, stehen katholische und serbisch-orthodoxe Kirchen sowie Moscheen dort bis heute wie selbstverständlich Seite an Seite.
Prof. Dr. Johannes Tripps (*1962) ist seit 2008 Professor für Kunstgeschichte der Materiellen Kultur an der Fakultät Informatik und Medien der HTWK Leipzig. Zuvor hatte er die Professur für europäische Kunstgeschichte an der Università degli Studi in Florenz inne. Der gebürtige Heilbronner begann seine wissenschaftliche Laufbahn an der Universität Heidelberg und publizierte in knapp 150 Aufsätzen und Monografien zu christlich geprägter bildender Kunst wie Altarmotive, Grabmäler oder Reliquien.
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2023 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.