Welchem Muster folgten Professoren-Karrieren in der Frühen Neuzeit? Um diese Frage zu beantworten, forschen Informatiker und Historikerinnen gemeinsam
Autorin: Katrin Haase
In Bibliotheken, Archiven und Museen in aller Welt lagern Dokumente, die von früheren Zeiten berichten. Vieles davon wurde inzwischen digitalisiert. Der digitale Datenschatz könnte neue Erkenntnisse über unsere Vergangenheit enthüllen – wenn er über klug aufgebaute Datenbanken erschlossen wird. Historikerinnen und Informatiker arbeiten dafür zusammen.
Wollen Historikerinnen und Historiker herausfinden, welche Umstände im Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts darüber entschieden, wer Karriere an einer Universität machte, müssen sie zeitgeschichtliche Berichte aufspüren, Einzelschicksale vergleichen und daraus Rückschlüsse ziehen. Doch wie viele Quellen in wie vielen europäischen Bibliotheken können sie sichten? Bei ein paar hundert Dokumenten und einer Handvoll Archiven muss wohl Schluss sein – der Mensch hat nur begrenzte Kapazitäten.
Für einen Computer hingegen ist es ein Leichtes, riesige Datensätze zu durchsuchen und dabei auch noch Muster zu erkennen. Um mithilfe digitaler Daten geisteswissenschaftliche Forschungsfragen lösen zu können, müssen Historikerinnen und Informatiker ihre Kompetenzen und Methoden kombinieren.
Was das bedeutet, lässt sich derzeit im interdisziplinären Forschungsprojekt „PCP-on-Web“ an der Herzog August Bibliothek (HAB) Wolfenbüttel und der HTWK Leipzig beobachten. Dahinter verbirgt sich der Titel „Professorale Karrieremuster der Frühen Neuzeit. Entwicklung einer wissenschaftlichen Methode zur Forschung auf online verfügbaren und verteilten Forschungsdatenbanken der Universitätsgeschichte“.
Die Herausforderung: unterschiedliche Datenbanken mit Lebens- und Karrieredaten von Professoren sinnvoll verknüpfen. Die Lösung: Datenbanken, die Grammatik verstehen.
Rückblende: Vor 400 Jahren
Hermann Conring war ein wissbegieriger Junge. 1606 in einem ostfriesischen Pfarrerhaushalt geboren, machte er sich in der Lateinschule als besonders lernwillig bemerkbar. Der Helmstedter Professor Cornelius Martini wurde schließlich auf den damals 14-Jährigen aufmerksam, holte ihn als Stipendiat nach Helmstedt und ließ ihn bei sich wohnen. Nach Martinis Tod unterstützte Professor Georg Calixt den jungen Conring und sorgte dafür, dass dieser an der Universität Leiden forschen und seine ersten wissenschaftlichen Aufsätze drucken konnte.
Dann bekam Conring das Angebot seines Lebens: Er sollte die Söhne des braunschweig-lüneburgischen Kanzlers Arnold Engelbrecht erziehen. Für diese Position kehrte er als 22-Jähriger in die Nähe von Helmstedt zurück – mit Aussicht auf eine Professur in Naturphilosophie, da die Stelle gerade vakant geworden war. In Engelbrechts Haus kam Conring mit politischen Amtsträgern in Kontakt und bewarb sich offiziell auf die Professur. Regierung und Universität stimmten zu, er wurde Professor.
Hermann Conring
(1606–1681) machte an der Universität Helmstedt eine beispielhafte Karriere als Professor und Universalgelehrter
© Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. CC BY-SA
Fortan widmete er sich intensiv der Lehre, veröffentlichte diverse Schriften und erwarb zwei Doktorgrade: in Medizin und Philosophie. Außerdem heiratete er die Tochter des Celler Vizekanzlers, womit sein Vermögen und sein sozialer Aufstieg gesichert waren. Im Alter von 31 Jahren wurde Conring Professor für Medizin und Leibarzt der Königin Christina von Schweden. Dreizehn Jahre später wurde er zusätzlich Professor für Politik. Conring prägte die Fächer Rechtsgeschichte, Staatenkunde, Politik, Medizin und Theologie und starb 1681 als wohlhabender Mann und angesehener Gelehrter mit eigener Bibliothek, Münzkabinett und Güterbesitz.
Ehemalige Universität Helmstedt
Die „Academia Julia“ wurde 1576 von Herzog Julius, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel, als protestantische Universität gegründet. Mit 559 Immatrikulationen war sie im Jahr 1616 die drittgrößte Universität im deutschsprachigen Raum. Mit der Eingliederung des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel in das Königreich Westfalen wurde die Universität Helmstedt 1810 geschlossen.
Muster erkennbar?
Der starre Karriereweg zur Professur, wie wir ihn heute kennen – erst Studium, dann Doktortitel, Habilitation und schließlich die Berufung – war damals noch nicht etabliert. Zugänglich war eine akademische Karriere nur Männern.
„Die frühneuzeitliche Professorenschaft kann als intellektuelle Elite gelten. Professoren waren kulturelle Wissensvermittler, politische Weisungsgeber und wirkten quasi nebenberuflich als praktizierende Ärzte, Anwälte, Prediger und Autoren“, erklärt die Historikerin Jennifer Blanke von der HAB Wolfenbüttel. Insofern beinhalte die Frage nach Karrieremustern auch die Frage danach, wem derart attraktive Positionen in der Gesellschaft überhaupt zugänglich waren.
Viele deutschsprachige Universitäten haben in den vergangenen Jahren ihre Archive digitalisiert und in Form sogenannter Professorenkataloge als Datenbanken verfügbar gemacht. Doch dabei handelt es sich um unverknüpfte Einzellösungen, Recherchen über mehrere Kataloge hinweg sind bislang nicht möglich. Die ungebändigten Datenbanken mit Professorenlebensläufen nutzen die Informatiker der HTWK Leipzig als Futter, um neue Methoden und Algorithmen zu entwickeln.
„Unser Ziel ist, geisteswissenschaftliche Fragestellungen mithilfe von digitalen Technologien beantwortbar zu machen. Wir sind überzeugt, dass Online-Datenbanken zeit- und kostenintensive Recherchen verkürzen und neue Forschungserkenntnisse zutage fördern können“, so Informatik-Professor Thomas Riechert von der HTWK Leipzig.
Genaugenommen geht es also um zwei Forschungsfragen: die Frage nach universitären Karrieremustern einerseits und die Frage nach geeigneten Methoden zur Verknüpfung von Geschichtsdatenbanken andererseits – Neuland in der Methodik geisteswissenschaftlicher Forschung. Dafür werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von 2017 bis 2020 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
Weblinks mit Bedeutung
Wenn Historikerinnen und Informatiker gemeinsam forschen, dann nutzen sie Begriffe aus der Linguistik: Sie sprechen von Subjekt, Prädikat und Objekt und meinen damit das Semantic Web. Das Internet basiert auf Textdokumenten, die mithilfe von Links verbunden sind. Im herkömmlichen Netz sind diese Verbindungen nicht bewertet oder begründet. Beim Semantic Web ist die Grundidee, Informationen im Netz zueinander in sinnvolle Relationen zu setzen und so Zusammenhänge herzustellen.
Wir alle kennen es aus der Wikipedia: Suchen wir dort den Begriff „Leipzig“, ist Leipzig das Subjekt. Am Ende des Textes finden wir die Kategorie „Deutsche Universitätsstadt“ – das Objekt. Verknüpft sind beide über das Prädikat „ist Teil der Gruppe“. Diese Grundeinheit nennt sich Tripel. Um Tim Berners-Lee, Erfinder von World Wide und Semantic Web, zu zitieren: „Das Semantic Web ist eine Erweiterung des bestehenden Netzes, in der Informationen mit eindeutigen Bedeutungen versehen werden, um die Arbeit zwischen Mensch und Computer zu erleichtern.“ Als Standardsprache hat sich dafür RDF (Resource Description Framework) etabliert. Auch Thomas Riechert nutzt diese Sprache, um die Professorendatenbanken miteinander zu verknüpfen.
Die Methodik
Riechert kam bereits während seiner Promotionszeit mit der Geschichtswissenschaft in Kontakt. Damals baute der Informatiker den Leipziger Professorenkatalog auf, eine auf dem Semantic Web beruhende Datenbank, in der alle Professoren verzeichnet werden sollen, die in Leipzig wirkten. Diese Datenbank verbindet er für das PCP-on-Web-Projekt mit den Professorenkatalogen der Universitäten Helmstedt, Bamberg und Kiel. Für Projekte wie diese hat er das Heloise Common Research Model entwickelt – „ein methodischer Vorschlag, der die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen erleichtern und die Verknüpfung unterschiedlicher Datenbanken ermöglichen soll“, so Riechert.
Dabei wird zwischen der Ebene der Datenbanken, der Ebene der Anwendungen und der Ebene der Schnittstellen unterschieden. Bei PCP-on-Web beispielsweise verknüpft Riechert die Datenbanken der verschiedenen Professorenkataloge, während sein Mitarbeiter Edgard Marx gemeinsam mit der Geschichtsforscherin Jennifer Blanke an der Schnittstelle zwischen Mensch und Computer arbeitet. Sie entwickeln einen Suchalgorithmus, der geschichtswissenschaftliche Forschungsfragen so übersetzt, dass die Datenbanken darauf antworten können.
Der Zwischenstand
Ein abschließendes Ergebnis ist erst Ende 2020 zu erwarten, doch Tendenzen sind bereits erkennbar. „Ein Professor musste gut situiert und hervorragend sozial vernetzt sein. Insofern ist die Karriere des Universalgelehrten Hermann Conring, der schon früh Begabung, Unterstützer und ein mächtiges Netzwerk hatte, mustergültig und beispielhaft für die Frühe Neuzeit“, erläutert Jennifer Blanke und ergänzt: „Jedoch ist wichtiges, aufschlussreiches Quellenmaterial noch nicht digitalisiert und fließt somit nicht in dieses Forschungsprojekt ein. Daher können wir bisher zwar Tendenzen ausmachen, aber die Frage nach Karrieremustern nicht abschließend beantworten.“
Das Forschungsprojekt zeigt deshalb auch: Für moderne Geschichtsforschung mit zuverlässigen Ergebnissen müssen noch zahlreiche weitere historische Dokumente mit einem gut durchdachten und semantisch verknüpften System digitalisiert werden. Auf die Frage nach einer neuen Methode zur Verknüpfung und Auswertung von Geschichtsdatenbanken haben die Informatiker der HTWK Leipzig allerdings bereits jetzt eine umfassende Antwort parat: in Form von dokumentierten Algorithmen und Handbüchern. Forscherinnen und Forscher in aller Welt können die Informationen in Zukunft frei nutzen und ihre Projekte auf diesen Wissensstand aufbauen.
Prof. Dr. Thomas Riechert
(*1973) ist seit April 2014 Professor für Informationssysteme und Datenmanagement an der HTWK Leipzig. Zuvor forschte und promovierte er am Informatik-Institut der Universität Leipzig. 2006 baute er die Forschungsgruppe „Agile Knowledge Engineering and Semantic Web“ mit auf.
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2019 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.