Mitglieder des Octagon Architekturkollektivs im Gespräch mit Annette Menting und Juliane Richter.
Im Tapetenwerk, einer umgenutzten Farbikanlage im Leipziger Westen, befindet sich neben Ausstellungshallen, Galerien, Studios und Ateliers das Büro des Octagon Architekturkollektivs. Erst vor rund 2 Jahren gegründet, sind die fünf Mitglieder heute bereits gut ausgelastet. Teilnahmen an offenen und geladenen Wettbewerben im klein- wie großmaßstäblichen städtebaulichen Bereich haben zu Anerkennungen, Preisen und schließlich auch Beauftragungen geführt. Das Interview wurde geführt mit Henry Fenzlein, Katharina Tihl und Philip Stapel, die zwischen 2006 und 2012 Architektur an der HTWK Leipzig studiert haben; weiterhin gehören Markus Wiese und Julia Köpper zum Octagon Architekturkollektiv.
Beim Gespräch erinnern sich die drei an ihre Studienzeiten und an das frühere Leipzig (die Partys, die Orte, die Möglichkeiten!). Zugleich sehen sie die Chancen in der heutigen, wachsenden Stadt, die sie mitgestalten wollen. Gelegenheit dazu bietet sich mit ihrem bisher größten Projekt, dem prämierten Konzept des kooperativen Werkstattverfahrens zur städtebaulichen Planung für das Areal des Eutritzscher Freiladebahnhofs nördlich des Leipziger Hauptbahnhofs. Die Fläche von 25 Hektar ist derzeit größtenteils unbebaut und soll zum neuen Stadtquartier für bis zu 3.500 Menschen werden. Hier bot sich dem Kollektiv die Gelegenheit, ihre Ideen eines gemischten Quartiers mit Nachbarschaftsplätzen, experimentellen Wohnformen und urbanem Grün einzubringen – und sie mit einem großen Investor sowie der städtischen Verwaltung auszuhandeln.
Neben dem Format eines Architekturbüros besteht außerdem der gleichnamige Verein Octagon, in dem weitere Vereinsmitglieder ihren Interessen an informellen Stadtentwicklungsprozessen nachgehen und in Veranstaltungen und Projekten Diskurse anregen. Im Interview wird der Beruf des Architekten angesprochen, die Motivation, in die Selbstständigkeit zu gehen und das Austarieren zwischen der informellen Zusammenarbeit in einer losen Gruppe und der Formalisierung und Professionalisierung in einem Kollektiv gleichberechtigter Partner.
Wie haben sich die Anforderungen an Euch heute im Verhältnis zu Eurem Studium entwickelt?
Henry Fenzlein: Die Themen in unserem Studium waren ganz andere – es ging um Schrumpfung und um Abwanderung aus Leipzig und aus anderen Städten, die Aufgabenstellungen ergaben sich aus einer Situation fehlender Nachfrage. Auch Jobs für Architekten waren damals Mangelware. Ein paar Jahre nachdem wir das Studium abgeschlossen hatten, begann sich das zu verändern. Heute gibt es in Leipzig eine extreme Nachfrage, nach Wohnungen zum Beispiel, und eine sehr gute Auftragslage. Wir haben uns in einer Transitphase gegründet, gerade in dem Moment, als sich die Verhältnisse umgekehrt haben.
Vermisst ihr etwas vom „alten“ Leipzig?
Henry Fenzlein: Man neigt oftmals dazu, die Vergangenheit zu verklären, aber zu Zeiten des Leerstandes gab es tatsächlich noch sehr viel Informelles und viele Möglichkeitsräume. Wir bespielten Räume oder schufen Situationen, und zwar ohne Gewinnabsichten. Wir wollten der Stadt etwas zurückgeben.
Philip Stapel: Als Architekten schaffen wir Raum. Wir können zeigen, wie man mit dem Phänomen der wachsenden Stadt kreativ umgehen kann. Durch die starke Nachfrage derzeit steigen für ein junges Büro wie unseres die Chancen, wahrgenommen zu werden und eigene Ideen einzubringen. Schließlich gibt es noch Räume, die wir erhalten wollen, Freiräume, Räume zur Zwischennutzung. Das sind Themen, die wir auch bei Projekten des Octagon-Vereins setzen möchten, zum Beispiel im Rahmen des Stadttfinden-Festivals, bei dem wir im Sommer 2017 zusammen mit dem Kunstverein D21 die leer stehende Glasfabrik in Leutzsch bespielt haben.
Gibt es einen Widerspruch zwischen dem Stadttfinden-Festival und dem Freiladebahnhof-Projekt?
Philip Stapel: Nein, wir versuchen, im Freiladebahnhof-Projekt unsere Ideen von sozial-räumlichen Qualitäten einzubringen und zu gestalten, hierbei nutzen wir aber auch Lerneffekte und Input aus dem Festival. Wir stellen uns immer wieder die Frage: Wie kann man Themen wie Freiraumqualitäten und das Schaffen von Kommunikationsräumen einbringen, auch wenn in einer Wettbewerbsausschreibung auf 120 Seiten Vorgaben aufgelistet sind?
Wie hat sich das Octagon Architekturkollektiv gegründet?
Katharina Tihl: Es besteht heute aus fünf Leuten: Philip, Henry und ich haben zusammen an der HTWK studiert und 2012 unser Studium abgeschlossen. Henry hat noch einen Master in Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar absolviert, Julia Köpper war schon 2006 fertig und hat später in Weimar ihr Aufbaustudium als Urbanistin abgeschlossen, Markus Wiese hat seinen Master-Abschluss 2014 an der HTWK gemacht. Als wir mit dem Studium fertig waren, gab es in Leipzig keine guten Bedingungen für eine Festanstellung in einem Architekturbüro, deshalb haben wir beschlossen, an offenen Wettbewerben teilzunehmen – und das sind zumeist städtebauliche Wettbewerbe. Die Gruppe kam zu Beginn recht informell zusammen, wir haben in verschiedenen Konstellationen an den Projekten gearbeitet und parallel dazu haben alle noch ihre „Brotjobs“ als Mitarbeiter in Architektur- oder Landschaftsarchitekturbüros gehabt. Dadurch haben wir ganz unterschiedliche Erwerbsbiographien aufgebaut und Erfahrungen gesammelt, die jeder ins Kollektiv einbringen konnte.
Philip Stapel: Wir haben schnell gemerkt, dass uns wichtige Themen und Methoden wie das künstlerische, experimentelle oder situative Arbeiten bei den verschiedenen Jobs zu kurz kamen. Das wollten wir in gemeinschafticher Arbeit ausprobieren, zum Beispiel im Projekt Ortstransfer am Teilungswehr, bei dem wir im erweiterten Kreis befreundeter Architekten agierten. Tatsächlich führte die klassische Wettbewerbsarbeit zur personellen Herausbildung des Architekturkollektivs.
Henry Fenzlein: Dahinter stand der Wunsch, selbstorganisiert zu arbeiten und zu gestalten, ohne dabei Hierarchien aufzubauen und Regeln aufzustellen, die nur für bestimmte Gruppenmitglieder gelten. Das ist auch heute noch die „Philosophie“ des Kollektivs und unserer Arbeitsweise. Natürlich ist das sehr aufwendig. Im Prozess zeigte sich, wer ernsthaft hinter der Idee stand, das Kollektiv aufzubauen, und wer sich mit der Gruppe auch professionalisieren wollte. Denn natürlich war die Arbeit anstrengend, unbezahlt und unsicher. Heute haben wir ganz unterschiedliche Temperamente und Charaktere im Team, die sich sehr gut ergänzen.
Katharina Tihl: Unser erster Arbeitsraum war ein ehemaliger, erdgeschossiger Laden in der Merseburger Straße – ein sogenannter Wächterladen. Es war schön, da es Schaufenster zur Straße hatte, aber es war schlecht ausgestattet und viel zu teuer. Als wir dann 2016 ins Tapetenwerk umzogen, hatten wir anfangs ein paar Bedenken. Schließlich ist das Setting hier schon institutionalisiert und wir hatten das Gefühl, uns in ein „gemachtes Nest“ zu setzen. Wir haben über die Frage diskutiert: Wollen wir so professionell sein oder sind wir doch eher ein lockerer Haufen?
Wie seid ihr heute organisiert?
Philip Stapel: Rechtlich haben wir eine GbR gegründet. Strukturell fahren wir zweigleisig: Der Octagon e. V. Raum für Architektur und Urbanes ist das Instrument, um am Diskurs teilzunehmen und ihn anzustoßen - der Verein hat derzeit 10 Mitglieder. Das Octagon Architekturkollektiv ist das Planungskollektiv, bestehend aus uns fünf. Im übertragenen Sinne ist der Verein das Fragezeichen, das Kollektiv das Ausrufezeichen.
Henry Fenzlein: Dieses Ansinnen spiegelt sich auch in unserem Logo wieder. Es ist ein sich stetig wandelndes Achteck, das als Metapher für den sich wandelnden Verein und sich verändernde Diskurse steht. Wir haben auch einen Graphiker beauftragt, unser visuelles Erscheinungsbild mit einer Plakatreihe zu entwickeln. Wir wollten ein „Eyecatcherplakat“, um unbekannte Leute anzusprechen und neugierig zu machen auf vielleicht sperrige Themen wie Urbanismus. Das hat auch gut funktioniert.
Philip Stapel: Derzeit setzt der Verein Veranstaltungen in zwei Formaten um: Die Filmreihe Octakino, die immer den Anspruch hat, mehr als reines Filmschauen zu sein und deshalb zu Diskussionen im Anschluss ans Schauen einlädt. Und die Dinner & Talks, zu denen wir Projekte und Initiativen zur Vorstellung einladen, mit dem Ziel, sich auszutauschen und das häufig vorkommende Konkurrenz-Denken unter Architekten aufzubrechen. Das ist eine Art erweiterter Architekturstammtisch.
Welcher Wettbewerb war besonders wichtig für euch? Gab es eine Art Durchbruch?
Philip Stapel: Ein wichtiger Wettbewerb war das Konzept für das Flughafengelände von Berlin Tegel 2016, wo ein Wohnquartier entstehen soll. Hier haben wir den 3. Platz belegt und mit dem renommierten Landschaftsbüro Latz & Partner zusammengearbeitet. Wir haben viel gelernt und es war ein Türöffner für weitere Wettbewerbe.
Henry Fenzlein: Das war unsere Eintrittskarte in den Freiladebahnhof-Wettbewerb. Seit diesem Wettbewerb formieren wir fünf als Architekturkollektiv. Unser Ziel ist es, für jeweilige Projekte auch Kooperationen mit Experten aus anderen Disziplinen zu unterhalten, zum Beispiel aus der Soziologie oder der Geographie. Ein Team aus fünf gleichberechtigten Partnern zu sein ist auch eine Herausforderung. Wir diskutieren und reden sehr viel. Das Kollektiv kann in Zukunft auch größer werden. Wir wollen wachsen.
Könnt ihr eine wichtige Person oder Situation aus der Studienzeit an der HTWK nennen, die prägend war?
Philip Stapel: Andreas Wolf, mit ihm sind wir auch heute noch viel im Gespräch.
Katharina Tihl: Ja, es gab einmal eine Situation während der Studienzeit, an die ich mich gut erinnere: Wir saßen an einem Projekt zur Revitalisierung einer Magistrale in Borna und zwischendurch wurde es schwierig und alle waren demotiviert. Andreas Wolf lud zur „Krisensitzung“ in Form eines Stuhlkreises in den Flur vor den Ateliers (damals noch im Geutebrück-Bau) und wir diskutierten das Ganze aus – danach waren alle wieder motiviert. Allgemein schätze ich an der HTWK den direkten Kontakt und Austausch mit den Professoren.
Henry Fenzlein: Andreas Wolf ist selbst ein Querdenker und hat auch stets in alle Richtungen denken lassen, das hat seine Entwürfe und Seminare stets sehr spannend gemacht. Dabei steht für Ihn nicht das Arbeitsresultat eines Studierenden im Vordergrund und die mögliche Reputation, die er als Lehrender dadurch bekommt, sondern vielmehr der Weg zum Ergebnis. Er hält nichts davon Lösungen aufzuzeichnen, viel wichtiger ist ihm die Emanzipation der Studierenden. Er versucht das eigenverantwortliche Denken und Gestalten zu fördern und agiert dabei als zurückhaltender Mentor. Ich glaube das hat uns sehr dabei geholfen, an uns zu glauben und den Weg in die Selbständigkeit zu gehen.
Philip Stapel: Das gemeinschaftliche Arbeiten hatte zu unserer Zeit an der Hochschule nicht die besten, räumlichen Vorraussetzungen. Ich denke, die neuen Räume in der HTWK bieten heute den Studierenden viel mehr Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Es sollte weitaus mehr Kommunikation, interdisziplinärer sowie jahrgangsübergreifender Austausch möglich sein.
Katharina Tihl: Obwohl unser Studium noch gar nicht so lange zurückliegt, ist es heute tatsächlich ein ganz anderes Studieren in neuen Räumen und mit neuen Menschen.
Würdet ihr Architektur-Absolventen heute empfehlen, ein eigenes Büro zu gründen?
Henry Fenzlein: Zu den Dinner & Talks unseres Vereins kommen auch viele Studierende, die uns fragen: „Lohnt es sich, ein Büro zu gründen?“ Ich kann das ohne Einschränkung befürworten.
Weitere Infos: octagon-architekturkollektiv.net
Das Gespräch führten Annette Menting und Juliane Richter mit den Mitgliedern vom Octagon Architekturkollektiv Henry Fenzlein, Katharina Tihl und Philip Stapel; Julia Köpper und Markus Wiese waren an dem Tag anderweitig im Einsatz.