Für Frauen ist das eigene Zuhause einer der gefährlichsten Orte. Rund ein Viertel aller Gewalttaten gegen sie geht vom Partner aus. Ein Forschungsteam der HTWK Leipzig fand heraus: Der Ort des Geschehens spielt dabei eine besondere Rolle.
Als Anne (Name v. d. Redaktion geändert) klein war, wurde sie oft von zu Hause weggeschickt. Wenn sie wiederkam, hatte ihre Mutter blaue Flecken oder einzelne Möbelstücke waren zerstört. Annes Vater war gewalttätig. Jahrelang ging das so. Als sie 18 Jahre alt war, stellte sich Anne das erste Mal gegen ihren Vater und wurde selbst Opfer: „Irgendwann bin ich dazwischengegangen und wurde auch verprügelt.“
Körperliche und sexuelle Übergriffe sind wie keine andere Form der Gewalt räumlich fixiert. Sie finden zu etwa 70 Prozent zu Hause in den eigenen vier Wänden statt. Besonders betroffen sind nach wie vor Mädchen und Frauen. Rund 81 Prozent der über 140.000 zur Anzeige gebrachten Gewalttaten in Partnerschaften in Deutschland wurden 2018 gegen sie verübt. Die Dunkelziffer ist weitaus größer. Häusliche Gewalt erleben aber auch Jungen und Männer sowie ältere Menschen – und sie durchzieht alle sozialen Schichten. Doch welche Bedeutung hat der Wohnraum für das Gewaltgeschehen? Im Forschungsprojekt „Biografische und räumliche Erfahrungswelten häuslicher Gewalt“ an der HTWK Leipzig führte der Soziologe Dr. Sebastian Schönemann lebensgeschichtliche Interviews mit Betroffenen und erforschte so das Wechselverhältnis von Raum und Gewalt in sozialen Nahbeziehungen. Untersucht wurde dieser Aspekt bislang nicht, wie die Sichtung nationaler und internationaler Forschungsliteratur zeigte.
Dass es einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Raum geben muss, vermutete Anja Pannewitz, Professorin für Sozialarbeitswissenschaften an der HTWK Leipzig, schon aufgrund ihrer vorherigen Studie zur Gewalttätigkeit von Mädchen und jungen Frauen. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Prof. Heike Förster leitete sie das Forschungsprojekt zur häuslichen Gewalt.
Räume können Gewaltmuster festigen
Um Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zu finden, rief das Projektteam ab Juli 2019 über E-Mails, Aushänge und Forenbeiträge zur Studienteilnahme auf. Die Resonanz war unerwartet groß. „Es haben sich durchweg Menschen gemeldet, die vorher noch nie oder nur im engsten Kreis über ihre Gewalterfahrungen gesprochen haben“, berichtet Schönemann. Auch für Anne war es das erste Gespräch. Neben ihr wurden zehn weitere Frauen und ein Mann befragt, alle zwischen 20 und 65 Jahren alt. Offen und anonym erzählten sie ihre Lebensgeschichten.
Bei der Fallanalyse von Anne zeigte sich beim Raum-Verhalten eine klare Strategie: das Wegschicken des Kindes. So brachte ihre Mutter sie zu Verwandten, Freunden oder Bekannten, wenn die Ausschreitungen des Vaters drohten, zu rabiat zu werden. Anne, die heute fast 65 Jahre alt ist, interpretiert das als Schutzmaßnahme ihrer Mutter. Sie sollte schließlich nichts mitbekommen. Doch nur so sei die Gewaltlogik aufrechterhalten worden und nur so sei die familiäre Gewalt über diesen langen Zeitraum intakt geblieben, so das Forschungsteam. Manchmal musste Annes Mutter auch Schläge ertragen, wenn Anne zu Hause war. Das war dann meist im Schlafzimmer, eine räumliche Tabuzone für das Mädchen.
Wer als Kind Gewalt erlebt, ist später gefährdeter
„Menschen, die bereits als Kind Zeuge beziehungsweise Zeugin oder Opfer geworden sind, haben als Erwachsene ein höheres Risiko, wieder mit solchen Grausamkeiten konfrontiert zu werden oder selbst zur Täterin oder zum Täter zu werden“, erklärt Schönemann. Gewalt müsse dabei als extremste Form der Konfliktbearbeitung verstanden werden. Durch das frühe Erleben könne man sich an gewaltvolle Formen der Problembewältigung gewöhnen und diese stärker akzeptieren. Anne hingegen konnte den Zirkel der Gewalt durchbrechen und musste glücklicherweise keine Vergehen mehr erleben.
Durch die Interviews erkannte das Forschungsteam dringenden Handlungsbedarf, denn sie zeigen den ungedeckten Bedarf an Hilfe und die hohe Dunkelziffer der tatsächlichen Betroffenheit. Pannewitz fordert deshalb: „Die Sensibilisierung für häusliche Gewalt muss weiter vorangetrieben werden.“
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2020/21 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.