Das modernste Gebäude der HTWK Leipzig ist der Nieper-Bau auf der Karl-Liebknecht-Straße. In dem Neubau sind seit 2015 die Vorlesungssäle, Seminarräume, Büros und Labore der Fakultät Inge- nieurwissenschaften untergebracht. Für Forschungszwecke werden dort Wärme und Strom aus Sonnenlicht, Windkraft, Erdwärme und Biomasse erzeugt. Um den eigenen Energiebedarf zu decken, ist das Gebäude jedoch auf Fernwärme und Strom aus dem öffentlichen Netz angewiesen. Beim Umgang mit Trinkwasser wird gespart: Die Toilettenspülung erfolgt mit Regenwasser. Abonnieren Sie kostenfrei das Forschungsmagazin Einblicke unter htwk-leipzig.de/einblicke

Alexander Kahnt und Lena Voelker untersuchen, welche Baukonstruktion das angenehmste Raumklima ergibt  S. 60 Inhalt Schwerpunkt Nachhaltig Bauen  8 Intro: Ob Holz als Baustoff oder Fassaden als Ener- giequellen – Nachhaltigkeit im Bau hat viele Gesichter  10 Kurz vorgestellt: Vier Forschungsprojekte, die Bau- materialien und Energieressourcen optimal einsetzen wollen  12 Interview: „Wir müssen jetzt handeln“ Architektin Annette Fest, HTWK-Professor Klaus Holschemacher und Staatsminister Thomas Schmidt im Gespräch über nachhaltiges Bauen  18 Betonbau: Grünes Grau Carbonbeton soll den Ressourcenverbrauch im Bauwesen senken. Die HTWK Leipzig erprobt die voll- automatisierte Fertigung  26 Solartechnik: Fassaden als Energiequelle Gebäudeintegrierte Photovoltaik soll helfen, mehr erneuer- bare Energien zu nutzen. Eine Erfindung der HTWK Leipzig versorgt nun eine Fabrik bei Heilbronn mit Strom  32 Wasserbau: Die Natur machen lassen Auf einer Spritztour mit dem Wasserbau-Experten Tilo Sahlbach lernen wir über nützliche Überschwemmungen, wertvollen Niederschlag und preisgekrönte Kläranlagen Fotoreportage  40 Statikprüfung: Stark genug? Eine ehemalige Fabrik soll zum Fitnessstudio werden. Ein Belastungstest ermittelt, was die Bausubstanz trägt 4

17,51 Mio. Euro … Drittmittel warb die HTWK Leipzig 2021 im Wettbewerb mit anderen Wissenschaftseinrichtungen von Bund, Land, Wirtschaft und EU zusätzlich ein. Daraus entfielen 3,30 Millionen Euro auf das Forschungs- und Trans- ferzentrum (FTZ) der Hochschule. Für die Fakultät Digitale Transformation stiftete die Deutsche Telekom 2,97 Millionen Euro. Entwicklung 2017–2021 Drittmitteleinnahmen in Mio. Euro 39,6 % Bund 32,2 % Wirtschaft 15,78 15,57 17,51 Herkunft Drittmittel 12,14 10,33 2017 2018 2019 2020 2021 8,7 % Andere 7,5 % Land 12,0 % EU Finanzvolumen in Mio. Euro 17,51 Drittmittel, davon 3,30 via FTZ 56,55 Mio. Euro 39,04 Zuschuss des Freistaates Sachsen 6.529 Studierende*1 1.157 Absolventinnen und Absolventen*2 6 *1 zum Stichtag 01.11.2021 | *2 im akademischen Jahr 2020/21

Nachhaltig Bauen

Auf dem Weg zur klimaneutralen Grundschule Damit ein Gebäude klimaneutral ist, braucht es eine ausge- glichene Energiebilanz: Es soll sich durch Photovoltaik, Solar- thermie oder Erdwärme selbst mit genügend erneuerbarer Energie für Wärme und Elektrizität versorgen. Doch zwischen Planung und Realität kann es leicht zu Abweichungen kommen. So auch bei der 2019 neugebauten Grundschule „Zur alten Post- station“ im sächsischen Wermsdorf. Deren Energiebilanz unter- suchten Ulrich Möller, HTWK-Professor für Bauphysik und Baukonstruktion, und seine Mit- arbeiterinnen Stephanie Weiß und Antonella Polzin mittels Fernüberwachung knapp zwei Jahre lang. Das Ergebnis: Insgesamt erzeugten die Solarmodule auf dem Gebäudedach 47.537 Kilowattstunden Strom. Die Schule selbst verbrauchte im selben Zeitraum allerdings 5.705 Kilowattstunden mehr – zu viel, um klimaneutral zu sein. Die Abweichung ist ver- hältnismäßig gering, sodass die Schule mit Anpassungen wie einer nutzungsspezifischen Steuerung der Lüftungstechnik Energie einsparen und damit klimaneutral werden kann. Die Forschenden haben Optimierungsvorschläge wie diesen im Abschlussbericht detail- liert ausgeführt. Mit den Erkenntnissen aus den Messungen können nicht nur die Schule in Wermsdorf, sondern auch zukünftige Projekte noch effizienter gestaltet werden. Der Neubau der Grundschule in Wermsdorf Sonnenwärme in Metallfassaden nutzen Schema einer Metallfassade mit Solarthermie Die Wärme von Sonnenstrahlen machen sich Architektur-Professor Alexander Stahr und seine Forschungsgruppe FLEX zunutze. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik in Chemnitz und dem belgischen Metall- Forschungszentrum CRM entwickeln sie ein System für zweilagige Metallfassaden mit integrierter Solarthermie. Die Forschenden formen in die Rückseite der Blechpaneele aus Edelstahl kleine Rinnen, durch die Solarflüssigkeit fließen kann. Diese wird durch die Sonne erwärmt und dient als Energieträger, mit dem Wasser erhitzt oder Gebäude beheizt werden können. Mithilfe rech- nerischer Simulationen liefert FLEX Designrichtlinien, die einerseits ästhetisch sind und andererseits die hohen tech- nischen Anforderungen in Bezug auf Fertigung und Nutzung der Fassadenelemente berücksichtigen. Um ein solches Fassadensystem unter realen Bedingungen zu veranschau- lichen, bauen sie Mitte 2022 einen Demonstrator der Blech- paneele mit Solarthermie im belgischen Liège. Dort prüfen die Forschenden nun, ob das gemeinsam entwickelte Ge- samtkonzept funktioniert und wie viel Energie sich zum Be- heizen eines Gebäudes gewinnen lässt. N A C H H A L T I G B A U E N 11

„Wir müssen jetzt handeln“ Wie können wir beim Bauen und Wohnen Energie und Baumaterial einsparen? Darüber sprechen die Architektin Annette Fest, der Leiter des HTWK-Instituts für Betonbau Prof. Klaus Holschemacher und der sächsische Staats- minister für Regionalentwicklung Thomas Schmidt.

Interview „Beim Bauen greifen wir massiv in die Umwelt ein und verbrauchen neue Ressourcen. Deshalb ist es umso wichtiger, den Gebäudebestand als eine solche zu begreifen“ Annette Fest, Geschäftsführerin des Architekturbüros Bodensteiner Fest N E U A B G I T L A H H C A N Wie regt die Politik zu mehr Nachhaltigkeit im Bau an? Schmidt: Mit verschiedenen Regulie- rungen wie beispielsweise der CO2- Bepreisung, Vorgaben zur Dämmung und Ähnlichem. Parlamente haben die Aufgabe, Ziele und Rahmen zu setzen, die eine Weile gelten müssen. Dazwischen allerdings muss Freiheit sein. In einem Wettstreit der Ideen, in einem offenen Innovationsprozess ergeben sich die besten Lösungen. Leider neigt die Politik derzeit oftmals dazu, nicht bloß Ziele und Rahmen zu setzen, sondern durch zu strikte Vorgaben bestimmte Wege von vorn- herein auszuschließen. Das ist ein Problem. Holschemacher: Richtig, eine Über- regulierung haben wir teilweise schon, andererseits brauchen wir na- türlich Regulierungen, beispielsweise eine Norm für Carbonbeton als neuen Verbundwerkstoff. Erst dann handelt 14 es sich um ein geregeltes Bauprodukt. Das macht es viel einfacher für Archi- tekturbüros und Bauunternehmen, ein solches Produkt für die Anwen- dung in Bauwerken vorzuschlagen. Fest: Wenn der Markt es selbst re- gulieren soll, müssen die Material- preise anders entstehen. Zum Beispiel beim Wärmedämmverbundsystem: Da muss in das Produkt eingepreist werden, was es kostet, wenn ich es wieder rückbaue, entsorge oder re- cycle. Viele denken das bisher nicht mit und entscheiden sich deshalb für Methoden und Materialien, die nicht nachhaltig sind und uns damit auf lange Sicht teuer zu stehen kommen. Schmidt: Aber wie preisen Sie es ein? Denn diejenigen, die es verkaufen, sind nicht unbedingt diejenigen, die es viele Jahre später zurückbauen. Wer also legt den Preis fest und wer bekommt das Geld? Holschemacher: Das ist sehr spekula- tiv. Wenn wir heute etwas neu bauen, wird das Recycling in circa 70 Jahren stattfinden. Niemand kann jetzt schon wissen, in welcher Form sich das ab- spielt. Das, was man im Moment tun kann, ist die CO2-Bepreisung. Ich glau- be, das ist der richtige Weg, um über- haupt in die Gänge zu kommen.

Interview Baugruppen oder Genossenschaften sind beispielsweise eine bewährte Form für ein zeitgemäßes, urbanes Wohnen und Arbeiten jenseits flä- chenfressender Einfamilienhausge- biete. Manche Kommunen unterstüt- zen bereits kooperative Initiativen durch Beratungen und Kontaktbör- sen. Holschemacher: Wer ein Haus baut, kann sich von der Deutschen Gesell- schaft für Nachhaltiges Bauen bera- ten lassen. Sie erteilt Zertifikate, die die Nachhaltigkeit von Gebäuden be- urteilt. Die öffentliche Hand macht das schon weitgehend. Für private Bauherren ist das weniger üblich, beim Industriebau erst recht nicht. Hier ist ein Feld für die Politik, um mehr Druck zu machen. In der For- schung können wir das nur begleiten. Wir können Zahlen bereitstellen, die für jeden Baustoff deutlich machen, was er wirklich kostet. Ob wir das mit Euro belegen müssen oder mit einer gewissen Menge, zum Beispiel an CO2-Ausstoß, die mit der Herstellung eines Bauteils verbunden ist, das wäre die Frage. Ist nachhaltiges Bauen teurer als konventionelles Bauen? Schmidt: Wenn man nur den Mo- ment betrachtet, ja. Aber wenn man die Lebensdauer eines Einfamilien- hauses von etwa 50 oder 70 Jahren betrachtet, dann ist nachhaltiges Bauen nicht teurer. Die anfänglichen Mehrkosten für die Nachhaltigkeits- aspekte werden sich bereits nach we- nigen Jahren auszahlen, davon bin ich überzeugt. N E U A B G I T L A H H C A N Wird Forschung zum Thema Nach- haltigkeit besonders gefördert? Holschemacher: In der Forschung sind wir seit Jahren dazu angehalten, die Themen in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten. Wir haben 2013 bei- spielsweise die Forschungsgruppe Nachhaltiges Bauen am Institut ge- gründet. Wir untersuchen, wie wir Beton umweltfreundlicher gestalten können. Denn der Betonbauweise müssen wir eine ganze Menge CO₂- Ausstoß zuschreiben, deshalb sind wir gefordert, Dinge zu verbessern. Ein Hoffnungsträger ist Carbonbeton, der Fasern aus Carbon zur Bewehrung nutzt und dadurch weniger Beton benötigt. Wie ist der Stand der Forschung dazu? Holschemacher: Das Thema hat sich gut entwickelt. In Dresden wird im Herbst 2022 der Cube eröffnet – das weltweit erste Gebäude aus Carbon- beton (  S. 18). Damit zeigen wir: Es funktioniert! Wir haben die Kosten sehr genau kalkuliert, denn Carbon- fasern sind teurer als Betonstahl. Auch hier konnten wir beweisen, dass die Kosten nicht explodieren. Wie Baufir- men ihre Technologie zukünftig um- stellen können, wenn sie mit Carbon- fasern als Bewehrung bauen wollen, zeigen wir in Leipzig in einem Tech- nikum. Allerdings stehen wir erst am Anfang des Weges. Die Überführung der Erkenntnisse von der Forschung 14,4 Prozent der Bodenfläche Deutschlands sind bebaut. Das sind insgesamt 51.693 Quadratkilometer 16 in die Praxis dauert in der Regel sehr lange, teilweise Jahrzehnte. Jetzt sind wir speziell unter Druck und müssen schneller vorankommen. Deswegen sind wir froh, dass die Politik mit uns an einem Strang zieht. Schmidt: Das Thema Carbonfasern spielt in ganz vielen Bereichen eine Rolle, wenn wir über Ressourcen- schutz sprechen. Es ist im Grunde eine Frage des Leichtbaus: Wie kön- nen wir Carbonfasern vielfältig in die Industrie, in den Bau und in andere Bereiche hineinbringen? Dazu sind mehrere Projekte geplant. Eins davon entsteht in der Lausitz und ergründet das Material aus der Perspektive einer Kreislaufwirtschaft – inklusive Recy- cling. Gibt es auch Forschungsprojekte zum Recyceln von Beton? Holschemacher: Ja, die gibt es schon seit längerer Zeit. Wir überlegen der- zeit, wie wir das Recycling schaffen, ohne große Energiemengen zuführen zu müssen. Durch die materialspezi- fischen Eigenschaften des Betons ist das aber nicht so einfach. Wir hoffen, dass wir in drei, vier Jahren eine ver- nünftige Antwort haben. Leben Sie in einem nachhaltigen Gebäude? Schmidt: Ich wohne in einem Haus, das ich gebaut und mittlerweile mo- dernisiert habe. Damals mussten wir uns unsere Ziegelsteine noch selbst besorgen. Sicherlich ist das Gebäu- de nicht auf dem aktuellen Stand der Technik, aber was ist nachhaltiger: Ein neues Haus bauen, oder das vor- handene Haus ertüchtigen? Wenn man es ehrlich betrachtet, ist es in der

Betonbau Beton und Stahl ergänzen sich richtig gut. Diese Erkenntnis führte im frü- hen 20. Jahrhundert zu einer Revolu- tion im Bauwesen, die ein Vordringen in bislang ungeahnte Dimensionen ermöglichte: Immer größere Hoch- häuser, weiter spannende Brücken, gewaltigere Industriehallen und gan- ze Stadtteile entstanden innerhalb kürzester Bauzeit. Denn Beton kann große Lasten tragen, brennt nicht, ist unempfindlich gegenüber äußeren Einflüssen und günstig in der Her- stellung. Er kann in fast beliebige For- men gebracht werden und ist im aus- gehärteten Zustand enorm druckfest. Mit dem zugfesten Material Stahl als Bewehrung kann Beton beachtliche Flächen überspannen. Aufgrund die- ser Vorzüge ist Stahlbeton heute welt- weit der meistverwendete Baustoff. Allein in Deutschland werden jährlich mehr als 100 Millionen Kubikmeter davon verbaut. Das entspricht etwa dem Volumen des Cospudener Sees am Südrand Leipzigs. Doch die Kehr- seite des „grauen“ Siegeszuges ist ein enormer Rohstoff- und Energiever- brauch, ganz zu schweigen von den Treibhausgasemissionen. Beton besteht hauptsächlich aus Ze- ment, Kies, Sand und Wasser, wo- bei allein die Zementherstellung für rund acht Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich ist – dreimal mehr als der Flugverkehr. Hauptursache ist der im Zement ent- haltene Kalkstein. Nicht nur, dass für das Brennen von Kalkstein Tempera- turen von 1.450 Grad Celsius benötigt werden. Noch dazu löst sich während des Erhitzens das im Stein gebundene CO₂ und entweicht in die Atmosphäre. Dass so viel Beton verbraucht wird, liegt auch am Stahl. Er kann leicht rosten und muss deshalb durch eine dicke Betonschicht vor Korrosion ge- schützt werden. Lange Zeit sah darin niemand ein Problem – immerhin kostet ein Liter Beton weniger als ein N E U A B G I T L A H H C A N 2050 Bis dahin will die globale Zement- und Betonindustrie klimaneutral sein. Sie setzt große Hoffnung in die CO₂-Abscheidung und -Speicherung Liter Mineralwasser. Doch die wahren Kosten liegen weitaus höher: Die Bau- industrie verbraucht rund 40 Prozent der weltweit abgebauten Rohstoffe. Zudem gehen rund ein Drittel der ge- samten Treibhausgasemissionen auf das Bauen, Nutzen und Rückbauen von Gebäuden zurück. Ressourcen sparen mit Carbonbeton An einer Alternative, die die Vorzüge von Stahlbeton übertreffen und gleich- zeitig Ressourcen sparen soll, arbei- ten Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler in Deutschland seit rund zwanzig Jahren: Carbonbeton. Carbon kann nicht rosten und ist enorm zug- fest. Im Vergleich zum Stahlbeton spart der neuartige Baustoff bis zu 80 Prozent Material, denn Bauteile aus Carbonbeton sind bei gleicher Leistungsfähigkeit um ein Vielfaches dünner und leichter. Dadurch wird nicht nur weniger Beton und damit Zement, Kies, Sand und Wasser benötigt, sondern auch deutlich weniger Energie für Herstel- lung, Transport und Logistik. Diese Einsparungen übertreffen schon heute den höheren Ener- Im Vergleich zu Stahlbeton (großer Würfel links) spart Carbonbeton (kleiner Würfel und Platte) bei gleicher Leistungsfähigkeit bis zu 80 Prozent Material 20

Betonbau Zudem mussten die einzelnen Bau- teile teilweise manufakturartig in en- ger Zusammenarbeit mit Forschenden produziert werden. Ohne öffentliche Förderung wäre so ein Vorzeigepro- jekt nicht umsetzbar. Um einen sub- stanziellen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, muss das Bauen mit Car- bonbeton innerhalb kürzester Zeit von der Ausnahme zur Regel werden. Von der Forschung in die breite Anwendung Damit das gelingt, treiben Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler in Aachen, Dresden und Leipzig den Transfer der Forschungsergebnisse weiter voran. In diesem Zuge ent- steht mit dem Carbonbetontechnikum Deutschland eine Modellfabrik, in der Bauteile aus Carbonbeton im Maßstab 1:1 für Forschungs- und Demonstra- tionszwecke gefertigt werden sollen. „Unser rund tausend Quadratmeter großes Carbonbetontechnikum ist weltweit einzigartig. Hier erforschen wir, welche Prozesse eine effizien- N E U A B G I T L A H H C A N 830 Meter misst der Burj Khalifa in Dubai. Das höchste Hochhaus der Welt besteht aus Stahlbeton und wurde 2010 eröffnet te, nachhaltige und wirtschaftliche Produktion von Carbonbeton ermög- lichen. Denn auch wenn Carbon- beton und Stahlbeton vergleichbare Anwendungsgebiete haben, müssen alle Produktionsschritte und Maschi- nen an den neuen Baustoff angepasst und zum Teil völlig neu gedacht wer- den“, so Prof. Klaus Holschemacher vom Institut für Betonbau der HTWK Leipzig. „Schon in ein paar Monaten wollen wir hier Bauunternehmen zei- gen, wie sie ihre Produktionsstätten gestalten müssen, um Carbonbeton- bauteile zu produzieren.“ Untergebracht ist das Carbonbeton- technikum in einer eigens dafür er- richteten Versuchshalle im Leipziger Stadtteil Engelsdorf. Schritt für Schritt entsteht hier eine komplette Pro- duktionsstrecke für die automati- sierte Herstellung von Fassadenele- menten von 3,25 Metern Breite und 1,25 Metern Höhe. Dabei gilt es an vie- len Stellen, Neuland zu beschreiten. Auf eine Innovation sind die Leipziger Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler besonders stolz: Im Carbon- betontechnikum wird ein Roboter die Bewehrung aus Carbon individuell vor Ort herstellen. Dazu legt er inner- halb von dreißig Minuten mehr als hundert Meter Carbongarn zu genau der gitterförmigen Geometrie mit der Tragfähigkeit, die für ein bestimm- tes Bauteil benötigt wird. Ein riesiger Fortschritt: Wird bislang Carbon ver- wendet, egal ob für Fahrzeuge oder für Bauteile, kommen fast immer vorgefertigte Carbonmatten mit Stan- dardmaßen zum Einsatz. Sie müs- sen für die eigentliche Anwendung zugeschnitten oder zusammengelegt werden. „Durch die direkte Garnab- lage werden nicht nur Transportwege, sondern auch bis zu 40 Prozent des teuren und energieintensiven Mate- rials Carbon gespart. Damit fallen die Herstellungskosten von Carbonbeton- bauteilen auf das Niveau vergleichbar leistungsfähiger Stahlbetonbauteile“, prognostiziert Otto Grauer, der Lei- ter des Leipziger Carbonbetontech- nikums. In dieser Halle in Leipzig-Engelsdorf entsteht eine weltweit einzigartige Modellfabrik für Carbonbeton 22

Betonbau Modellfabrik ermöglicht neue Innovationen Bauteile aus Carbonbeton haben weit- aus mehr Potenzial als bloß einen Raum zu umschließen. Denn Carbon ist elektrisch leitfähig. Die einbeto- nierten Carbonfasern könnten also genutzt werden, um nützliche Funk- tionen direkt ins Bauteil zu integrie- ren. An der HTWK Leipzig arbeiten deshalb Fachleute aus Bauingenieur- wesen und Automatisierungstechnik zusammen. Aus dieser Kooperation entsprangen bislang nicht nur ein Patent, sondern auch mehrere For- schungsprojekte mit Millionenförde- rung. In einem dieser Projekte soll Sen- sorik in Carbonbetonbauteile integ- riert werden. Die Idee dahinter ent- stammt dem industriellen Übertra- gungsstandard AS-Interface. „Durch AS-Interface kommunizieren zahl- reiche Sensoren und Aktoren flexibel über ein und dasselbe Kabel mitein- ander. Selbst die benötigte Energie beziehen sie über dieses Kabel. Das reduziert den Verkabelungsaufwand auf ein Minimum“, erklärt der Elek- trotechnik-Professor Tilo Heimbold. Die Technologie ist weltweit millio- nenfach im Einsatz und ermöglicht automatisierte Prozesse in Flughäfen, Fabriken und Gebäuden. Heimbold: „AS-Interface wird bislang haupt- sächlich in der Industrie verwendet. Nun wollen wir die Vorzüge der Tech- nologie auch auf Carbonbetonbau- teile übertragen.“ Exemplarisch soll ein Demonstrator eines Büro-Wand- elements im Carbonbetontechnikum entstehen. Wandintegrierte Hellig- keitssensoren steuern hier Jalousien und Beleuchtung; Feuchte- und CO₂- Sensoren das Raumklima. Im ersten Schritt integrieren die Forschenden handelsübliche AS- Interface-Kabel in die Carbonbe- wehrung. Doch zukünftig soll die Datenkommunikation direkt über Carbonfasern laufen. Umsetzbar ist das nur, wenn die Carbonbewehrung so wie im Leipziger Carbonbetontech- nikum automatisiert individuell ge- fertigt wird. Und diese Schlüsseltech- nologie ermöglicht noch mehr, blickt N E U A B G I T L A H H C A N Die Forschenden wollen Carbonbetonbauteile zusätzlich mit Funktionen versehen. Dafür setzen Otto Grauer (links) und Tobias Rudloff auf den Übertragungsstandard AS-Interface. Das gelbe Kabel überträgt Energie und Daten zugleich. Künftig soll das direkt über die Carbonfasern laufen 24

Solartechnik Ein wenig futuristisch sieht es aus, das Firmengebäude von Aluform, einem Verarbeiter von Aluminium- Verbundwerkstoffen. An einem Feld- rand bei Heilbronn sticht es aus dem am Ortsrand gelegenen Industrie- gebiet hervor. An der Süd- und West- fassade des Neubaus glänzen helle Drei- und Vierecke, die aus den bei- den Wänden dreidimensional her- vorstehen und Solarstrom erzeugen. „Die plastische Struktur entsteht auto- matisch, wenn wir die Photovoltaik- Module bestmöglich zur Sonne aus- richten, denn kaum eine Wand steht in einem für die Energiegewinnung optimalen Winkel“, erläutert Frank Hülsmeier, Architektur-Professor an der HTWK Leipzig. Die meisten Pho- tovoltaikanlagen in Deutschland er- zeugen dann optimal Strom, wenn sie nach Süden ausgerichtet und zwi- schen 30 und 35 Grad geneigt sind. Nach diesem Prinzip sind auch die über 400 Module ausgerichtet, welche in die Fassadenelemente des Firmen- gebäudes fest integriert sind. Sie pro- duzieren circa 10.000 Kilowattstunden Strom im Jahr und versorgen die Büro- und Produktionsräume der Firma seit Dezember 2021 mit Energie. Viel Potenzial, wenig Umsetzung Photovoltaik-Anlagen erzeugten 2021 knapp ein Zehntel des in Deutsch- land produzierten Stroms. Ausgehend von einem weiter steigenden Strom- bedarf müssen wir laut Fraunhofer- Institut für Solare Energiesysteme bis 2045 etwa siebenmal mehr Strom aus Solarenergie gewinnen, um die Ziele 48,4 Terawattstunden Strom erzeugten Photovoltaik-Anlagen in Deutschland 2021 – knapp ein Zehntel der ge- samten Stromerzeugung der Energiewende zu erreichen. Ge- bäudeintegrierte Photovoltaik birgt dabei großes Potenzial: 6.000 Qua- dratkilometer Gebäudedächer und doppelt so viel Fassadenfläche ließen sich theoretisch in Deutschland für Photovoltaik nutzen und könnten bis zu 1.000 Gigawatt Stromleistung er- möglichen. Doch Fassaden sollten nicht nur funktionell, sondern auch abwechslungsreich gestaltet sein, da sie das Bild einer Stadt prägen, findet Hülsmeier. Gemeinsam mit seinem Team entwickelt er dafür ge- stalterische Möglichkeiten, denn er N E U A B G I T L A H H C A N Die Fassade des Firmengebäudes von Aluform produziert dank Photovoltaik 10.000 Kilowattstunden Strom pro Jahr 28

Solartechnik N E U A B G I T L A H H C A N rialien ein. Ein Computerprogramm berechnet dann, wie groß die Einzel- elemente sein müssen, um den Platz optimal auszunutzen. Diesen Vor- schlag können Architektinnen und Architekten dann mit ihren Gestal- tungsideen erweitern. Zusätzlich zur Fassade bei Heilbronn bauten die Forscher und Partner zwei rechtwinklig zueinanderstehen- de Wände mit Solar-Shell-Fassaden- elementen im Technikum des Kon- zerns 3A Composites in Singen am Bodensee. „Dort können wir veran- schaulichen, wie sich dieses Bauteil verhält, wie viel Strom es produziert und wie die Photovoltaikmodule ge- wartet und ausgetauscht werden kön- nen“, erklärt Heller. … und auf Beton Mit Metall gestalten Architektinnen und Architekten verhältnismäßig sel- ten Fassaden. Häufig bestehen Ge- bäudewände aus Mauersteinen oder Betonbauteilen, die von außen ge- dämmt und verputzt werden. Manch- mal sollen die Materialien aber sichtbar bleiben: In der modernen Architektur wird beispielsweise gern Sichtbeton als gestalterisches Ele- ment verwendet. Auch dort könnte Photovoltaik zum Einsatz kommen. Doch wie genau? Dafür untersuchen Hülsmeier und sein Team derzeit ver- schiedene Lösungen – mit der glei- chen Grundidee wie bei Solar-Shell: Die Photovoltaikmodule sollen sich optimal zur Sonne ausrichten, der 30 Stefan Huth programmiert die Algorithmen, die einen Designvorschlag für die Fassade mit integrierter Photovoltaik entwerfen Die Photovoltaikmodule sollen sich optimal zur Sonne ausrichten, der Beton passt sich als Designelement gestalterisch dieser Maßgabe an, sodass eine dreidimensionale Struktur entsteht 2022 Seit dem 1. Mai muss auf jedes neue Haus in Baden-Württemberg eine Solaranlage. Eine bundesweite Regelung wird diskutiert

Wasserbau Wasser folgt seinem natürlichen Weg im Kreislauf zwischen Wolke, Regen, Fluss und Meer und kann dabei nütz- lich oder zerstörerisch sein. „Mit ex- tremen Wetterlagen wie Dürre und Starkregen müssen wir in Zukunft vermehrt rechnen“, prophezeit Tilo Sahlbach. Er leitet gemeinsam mit Prof. Hubertus Milke das Institut für Wasserbau und Siedlungswasserwirt- schaft (IWS) der HTWK Leipzig. Von Sahlbach wollen wir wissen, welche Rolle Wasser beim Bauen einnimmt. Für seine Antworten lädt er uns auf eine gemeinsame Spritztour ein. Erster Halt: Hier führt Starkregen zu Hochwasser „Zuerst zeige ich Ihnen, wie es nicht laufen sollte“, beginnt Sahlbach. Im Herzen Leipzigs stehen wir auf dem Friedrich-List-Platz östlich des Haupt- bahnhofs und halten drei Straßen- karten in der Hand, auf denen viele magentafarbene Flächen zu sehen sind. Es sind Auszüge aus der Stark- regengefahrenkarte, die Sahlbach und seine Forscherkolleginnen und -kolle- gen vom IWS im Auftrag der Leipziger Wasserwerke und der Stadt Leipzig durch Messungen und umfangreiche Simulationen erstellt haben. Die digi- tale Karte informiert Leipzigerinnen und Leipziger über Gegenden der Stadt, die bei Starkregen überflutungs- gefährdet sind. Dabei können sie drei Szenarien anschauen: die Überflutung bei intensivem Starkregen, der statis- tisch gesehen alle 30 Jahre fällt, bei außergewöhnlichem Starkregen, der alle 100 Jahre auftritt oder extremem Starkregen, der einmal in 1.000 Jahren vorkommt – hier zuletzt im Jahr 2013. Der nächste wird wohl nicht tausend Jahre auf sich warten lassen – durch den Klimawandel wird das Wetter im- mer extremer. Der Friedrich-List-Platz ist der über- flutungsgefährdetste Ort Leipzigs. Die Farbe Magenta warnt: Hier wür- de vieles bei intensivem Starkregen N E U A B G I T L A H H C A N 21 Tage hat es 2021 in Deutschland stark geregnet. An fünf Tagen davon sehr stark mehr als 50 Zentimeter tief im Wasser stehen, seien es die Straßenbahnen und Autos an der Kreuzung oder die Wohnungen und Läden am Rande des Platzes. „Das Wasser würde natürli- cherweise Richtung Westen abfließen, dort wird es aber durch die Mauern des Hauptbahnhofs davon abgehalten und sammelt sich hier“, erläutert Sahl- bach. Gemeinsam mit den Leipziger Wasserwerken suchen die Forschen- den derzeit nach baulichen Lösungen gegen die Überflutungsgefahr. Helfen würden Parks oder Becken, die das Wasser zwischenspeichern, oder eine Möglichkeit, das Wasser in nahelie- gende Flüsse abzuleiten. Auch Haus- eigentümerinnen und -eigentümer können mithilfe der Karte einschät- zen, ob sie ihre Gebäude gegen Sturz- fluten schützen sollten, beispielsweise durch mobile Hochwasserschutzwän- de aus Edelstahl oder abgedichtete Fenster und Keller. Die Stadt Leipzig und ihre Bürger- innen und Bürger sind mit der Stark- regengefahrenkarte informierter und vorbereiteter als die meisten anderen Orte, die nur aus den Sturzfluten der „Am besten sollten wir der Natur möglichst viel selbst überlassen – sie ist die Expertin. Wenn der Mensch gegen die natürlichen Kreisläufe kämpft, kostet es immer mehr Energie, als diese Wege zu nutzen“ Tilo Sahlbach, HTWK Leipzig

Wasserbau Von Grund auf erneuert: Der Boden des neuen Quartiers Leipzig 416 soll selbst bei intensivem Starkregen den gesamten Niederschlag speichern können Sahlbach während der Spritztour des Öfteren wiederholt, denn: „Wenn der Mensch gegen die natürlichen Kreis- läufe kämpft, kostet es immer mehr Energie, als diese Wege zu nutzen.“ Damit das Regenwasser auf natürli- chem Wege dorthin fließt, wo es ver- sickern kann, wird das neue Quartier mit einem Gefälle zur zentralen Grün- anlage errichtet. Beim Speichern des Wassers helfen Rigolen. Das sind mit Kies gefüllte Auffangbecken, die unter Rasen und Bäumen angelegt werden. Dadurch kann das Wasser langsam versickern oder von den Wurzeln er- neut aufgenommen werden. Das löst zwei Probleme: Es hilft gegen über- schwemmte Häuser und zugleich gegen verdorrte Wiesen. „Regenwasser, das auf Dächer fällt, sollte Pflanzen bewässern oder ins Grundwasser fließen“, ist Sahlbach überzeugt, „sonst verschwenden wir dieses wertvolle Gut.“ Deshalb set- zen die Planerinnen und Planer von Leipzig 416 auf Gründächer. Sie spei- chern Regenwasser, verbessern die Luftqualität, kühlen Gebäude im Som- mer und wirken im Winter wie eine Wärmedämmung. Die Chance, dass ein ganzes Viertel von Grund auf neu entsteht, bietet sich selten. Umso spannender ist dieses Bauprojekt, das im Auftrag der Stadt und des Eigentümers unter dem Namen „Leipziger BlauGrün“ von Forschungseinrichtungen wie dem 36 Helmholtz-Zentrum für Umweltfor- schung und vielen weiteren Partnern begleitet wird. Die Forschenden der HTWK Leipzig modellieren und visu- alisieren hierbei die Wege des Wasser- flusses und übertragen die gewonne- nen Erkenntnisse auf das Stadtgebiet von Leipzig. 2023 sollen die ersten Ge- bäude entstehen. 801 Liter Regen pro Quadratmeter fielen 2021 in Deutschland. Das entspricht etwa fünf vollen Badewannen

Wasserbau trächtigen. Dafür sind die Berechnun- gen und Visualisierungen der HTWK Leipzig grundlegend. Aussteigen, bitte: Die Kläranlagen in Treptitz Unsere Spritztour endet im nordsäch- sischen Treptitz. In dem beschau- lichen Dorf lebt Sahlbachs Familie seit fünf Generationen. Hier machte sich der Bauingenieur für nachhaltige Kläranlagen stark. Was als Konfron- tation gegen die Vorschriften der Ge- meinde begann, wurde zum Vorzeige- projekt: Das Dorf erhielt im Jahr 2014 den sächsischen Umweltpreis und die Auszeichnung „Land der Ideen“. Ur- sprünglich hatte jedes Grundstück im Dorf eine eigene Mini-Klärgrube. Ab 2009 sollten sie biologisch umgerüstet werden, das gab eine neue Umwelt- richtlinie vor. Das hätte alle Grund- stücksbesitzende mehrere tausend Euro gekostet. Bei der Suche nach N E U A B G I T L A H H C A N Wie können Sie sich vor Hochwasser schützen? Wer seine eigenen vier Wände vor Hochwasser schützen will, findet im Bildungs- und Demonstrations- zentrum Dezentrale Infrastruktur in Leipzig-Leutzsch praktische Tipps. Der Verein zeigt, wie Haus- besitzende Kabel wasserdicht verlegen, Fenster abdichten und Garagen vor Sturzfluten schützen können. Auch verschiedene Klär- anlagen für Grundstücke können sich Interessierte hier zeigen und erklären lassen.  www.bdz-infrastruktur.de 38 Eine der beiden Kläranlagen in Treptitz, die gemeinsam das Abwasser von 45 Haushalten reinigen Alternativen setzten die Treptitzer- innen und Treptitzer auf den Was- serwirtschaftsexperten aus den eige- nen Reihen. Unter seiner Betreuung entstand an der HTWK Leipzig eine Diplomarbeit, in der die Bauingenieu- rin Uta Stark herausfand: In Treptitz ist der Einsatz von Gruppenkläranla- gen nachhaltiger, da sie im Vergleich zu Einzelkläranlagen kostengünstiger im Bau und Betrieb sind und pro Kopf weniger Strom verbrauchen. anlagen gereinigt. Einmal wöchent- lich schaut ein Techniker nach dem Rechten und einmal jährlich prüft ein unabhängiges Labor die Qualität des Wassers – bisher einwandfrei. Der Geruch: unauffällig. „Gut arbeitende Kläranlagen stinken nicht“, erklärt Sahlbach, „da sich im Inneren der An- lage eine Walze dreht und das Wasser permanent mit Sauerstoff anreichert, um die biologischen Reinigungspro- zesse anzuregen.“ Nachdem auch die Politikerinnen und Politiker von der besseren Lösung überzeugt waren, baute die Dorf- gemeinschaft zwei Gemeinschafts- kläranlagen – zwei, um das gesamte Dorf anschließen zu können. Dem natürlichen Gefälle folgend, läuft das Abwasser der 145 Einwohnerinnen und Einwohner in einem Netz aus Ab- wasserkanälen von zwei Kilometern Länge unterirdisch den Berg hinab und wird dort von den beiden Klär- In diesen autogroßen Kläranlagen ist alles gebündelt: Die mechanische Rei- nigung, bei der Grobstoffe wie feuch- tes Toilettenpapier abgefangen wer- den, und die biologische Reinigung, in der vor allem Bakterien die „Drecks- arbeit“ machen und Sauerstoff das Wasser belebt. Es fließt dann gereinigt in den nahe gelegenen Fluss Dahle.

Stark genug? Text: Katrin Haase Fotos: Maximilian Johnson (S. 41– 46) und Gunter Hahn (S. 40, 47) Wie viel Last kann eine Decke tragen? Um das heraus- zufinden, belastet die HTWK-Ausgründung IEXB Decken mit Stahlrahmen und hydraulischen Pressen. So können die Bauingenieure vorherbestimmen, ab welchem Gewicht alles zusammenbrechen würde. Die Fotostory zeigt einen Belastungstest im sächsischen Vogtland, wo eine ehema- lige Eisengießerei zum Fitnessstudio werden soll. E G A T R O P E R O T O F Bevor im künftigen Fitnessstudio stählerne Muskeln trainiert werden, muss erst einmal die Decke der alten Industriehalle beweisen, dass sie noch stark genug ist, die schweren Fitnessgeräte zu tragen 40

Statikprüfung Ein wenig sieht es aus wie eine Brücke aus Stahl, was die Bauingenieure Gunter Hahn und Markus Fischer da gemeinsam mit ihren beiden Technikern innerhalb von zwei Stunden eigenhändig aufge- baut haben: Ein Gestell aus Stahl, das auf Böcken steht und mit daran befes- tigten Hydraulikzylindern für viel Druck sorgt. Damit wollen die Bauingenieu- re des Leipziger Unternehmens IEXB herausfinden, ob die Decke über dem ersten Geschoss der alten Eisengießerei in Limbach tatsächlich hält. Rein rechnerisch kam ein Statiker zu dem Ergebnis, dass die Decke der alten Halle für die neue Nutzung als Fitnessstudio nicht stark genug sei. Ihm fehlten Bau- pläne und genaue Informationen über die verwendeten Baumaterialien, daher ging er vom schlechtesten Fall aus – mit negativem Ergebnis. Doch der Bauherr wollte nicht aufgeben und beauftragte IEXB für umfangreiche Untersuchungen des Tragwerks. Zunächst machten sie Vorberechnun- gen mit Finite-Elemente-Simulationen, erstellten ein individuell angepasstes Konzept, wie die Prüfung vor Ort durch- geführt werden kann, und bereiteten den Außeneinsatz vor. Nun geht es vor Ort weiter: In vier Tagen belasten sie ver- schiedene kritische Punkte der Decke und messen dabei, wie sich der Beton verformt. E G A T R O P E R O T O F Die ehemalige Eisengießerei im vogtländischen Limbach. Das Fitnessstudio soll in der zweiten Etage entstehen Gleich neben der roten Stahlkonstruk- tion richten sich Hahn und Fischer auf zwei Tischen ein mobiles Messlabor ein. Es besteht aus zwei Computern und einer Elektropumpe, die Öl in die Hydraulik- zylinder befördert, wenn Hahn langsam das Ventil aufdreht. Wie viel Kraft auf die jeweiligen Zylinder einwirkt, ermitteln elektrische Kraftmessdosen. Eine Etage tiefer hängen hochsensible Messgeräte an der Decke, deren zahlrei- che Kabel durch ein Loch mit den oben- stehenden Computern verbunden sind. Die Sensoren messen zweierlei: Speziell angefertigte Mikrofone zeichnen genau die Frequenz der Geräusche auf, die Beim Belastungstest wird ordentlich Druck gemacht: Ein Hydraulikzylinder kann bis zu 38 Tonnen Last erzeugen. Zwei davon sind in Limbach im Einsatz entstehen, wenn durch die Belastung Mikrorisse im Beton auftreten. Diese Risse sind bis zu einem gewissen Niveau unbedenklich. Diese Art der Schallemis- sionsanalyse hat Dr. Gerd Kapphahn an der HTWK Leipzig vor zwanzig Jahren für Beton anwendbar gemacht und da- mit einen entscheidenden Beitrag für die Weiterentwicklung experimenteller Be- lastungsuntersuchungen geleistet. Weg- aufnehmer wiederum messen, wie viele tausendstel Millimeter sich die Beton- decke nach unten durchbiegt und damit auf die langsam steigende Last reagiert. Diese Informationen visualisieren die Computer. Dadurch sehen Hahn und Fischer zeitgleich alle notwendigen Parameter zur Bewertung des Tragver- haltens der Decke. Sollten die Last-Ver- formungs-Kurven oder Schallsignale in kritische Bereiche kommen, können die Bauingenieure das Experiment sofort abbrechen. Dann würde Hahn das Ven- til öffnen und den Ölfluss umkehren. So kann er eine Schädigung der Struktur vermeiden. Denn nicht die zwei Tonnen schweren Stahlrahmen, sondern die Hy- draulikzylinder sorgen für die eigentliche Last. „Zum Vergleich: Wasser schießt mit einem Druck von rund drei Bar aus dem

Gunter Hahn analysiert mit einem Impuls-Echo- Radar die Decke über dem ersten Geschoss und sieht so, wo im Inneren des Betons die Stahlbe- wehrung verläuft. Das muss er wissen, um eine geeignete Position für den Stahlrahmen und die Verankerungspunkte zu bestimmen E G A T R O P E R O T O F Mit modernster Technik testen die Bauingenieure die Traglast von Gebäudeteilen vor Ort, ohne sie zu zerstören. Sensoren messen minimale Verformungen sowie kleinste Geräusche von Mikrorissen im Beton und geben so Aufschluss darüber, wie viel Last eine Decke wirklich tragen kann Wie reagiert die Bausubstanz auf die Last? Unter der Decke messen Wegaufnehmer (links), wie viele tausendstel Millimeter sich die Betondecke nach unten biegt. Mikrofone (rechts) erfassen das Knacken kleinster Risse im Beton, die darauf hinweisen, wie viel Last die Decke noch tragen kann 44

Viel Handarbeit ist gefragt: An einem Tag drehen die Ingenieure knapp 300 Schrau- ben in den Stahlträger Um die Belastungsprobe exakt durchführen zu können, muss ein Kräftekreislauf zwischen dem zu prüfenden Bauteil und den Stahlträgern erzeugt werden. Dafür verschrauben die Bau- ingenieure ein Stahlgerüst mit- hilfe großer Eisenstangen mit dem Boden E G A T R O P E R O T O F Hahn verankert die Stahlträger mit den Eisenstangen fest am Boden. Damit die Stangen präzise und gerade an der richtigen Position halten, setzen die Ingenieure Traversen, Ankerplatten und Muttern ein Im mobilen Messlabor: Markus Fischer (links) und Gunter Hahn 46

„Ziemlich einzig- artig, was da entstanden ist“ Vor dreißig Jahren wurde die HTWK Leipzig gegründet. Seit- dem ist die Forschungsstärke der Hochschule kontinuierlich gewachsen. Sieben Professoren haben als Prorektoren für Forschung diese Entwicklung vorangetrieben. Gemeinsam blicken vier davon zurück und in die Zukunft. R E T H C I L G A L H C S Herr Nietner, die HTWK Leipzig wurde 1992 gegründet. Vor welchen Herausforderungen stand die Hochschule in der Anfangszeit? Prof. Manfred Nietner: Die HTWK Leipzig hat mehrere Vorgängerein- richtungen, die größte war die Tech- nische Hochschule, eine Universität. Kurz nach der Wende zeichnete sich ab, dass wir Fachhochschule werden. Uns Beschäftigten war völlig klar: Dann werden viele Stellen abgebaut. Deswegen sind viele nochmal in die Wirtschaft gewechselt – auch ich. Für diejenigen, die geblieben sind, war es unheimlich schwer. Fachhochschule, das bedeutet ganz andere Rahmen- bedingungen. Die Kolleginnen und Kollegen mussten das neue Studium aufbauen und noch bis 1996 die uni- versitären Studiengänge zu Ende füh- ren. Für sie stand Forschung nicht an allererster Stelle. Herr Thiele, Sie waren damals schon in der Forschung aktiv, richtig? Prof. Ralf Thiele: Ich war von 1984 bis 1998 in diesem Hause, erst als Stu- dent und ab ’89 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Mein damaliger Chef hat schnell Kooperationsbeziehungen zur Universität Karlsruhe entwickelt. In der BRD gab es damals Forschungs- förderung, wenn man mit Hochschu- len in der DDR zusammenarbeitete. Die HTWK wurde dann ’92 Mitglied in einem Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemein- schaft. Für mich war das eine extrem spannende Zeit. Nebenbei hat sich die Hochschule täglich verändert. Wenn ich mit neuen Ideen oder Aufgaben kam – „ich brauche mal eine Ver- öffentlichung“, „ich will zu einer Konferenz nach Neapel fahren“ – sind alle sprichwörtlich umgefallen. 48

Wir sind gedanklich schon am Ende der Neunziger, als Sie, Herr Nietner, Prorektor wurden. Wenn Sie zurückblicken, worauf sind Sie besonders stolz? Nietner: Mittlerweile wirbt die Hoch- schule fünfzehn Millionen Euro Dritt- mittel im Jahr ein. Davon hätten wir damals nicht einmal träumen kön- nen, zu meiner Zeit lag das bei ein bis zwei Millionen. Dass sich das so gut entwickelt hat, liegt sicherlich auch am FTZ. Deswegen habe ich mich da- mals als Prorektor und später als Rek- tor immer dafür eingesetzt, dass sich sowohl die Forschungsfähigkeit der Hochschule als auch das FTZ weiter- entwickeln. 30 Jahre HTWK Leipzig erinnern, dass der zuständige Kollege Siegfried Altmann wegen der Wider- stände im damaligen Kanzlerbereich manchmal fast verzweifelte. Krabbes: Im Rückblick jedoch ist das FTZ ein Privileg. Das sächsische Hoch- schulgesetz war damals bundesweit eines der ersten, das den Fachhoch- schulen mit den FTZs die Möglichkeit gab, die geforderte „praxisbezogene Lehre“ und „anwendungsorientierte Forschung“ auszugestalten. Prof. Dr. Manfred Nietner (*1943) war von 1999 bis 2003 Prorektor für Wissenschaftsent- wicklung und von 2003 bis 2006 Rektor der HTWK Leipzig. Er wurde 1997 auf die Professur für Baupro- duktionstechnik berufen und 2008 emeritiert. R E T H C I L G A L H C S Der Begriff „Drittmittel“ ist nun mehrfach gefallen. Warum sind der Hochschule ihre hohen Dritt- mitteleinnahmen so wichtig? Thiele: In unserem Haushalt sind keine Stellen für den sogenannten Mittelbau vorgesehen – also für wis- senschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für Promovierende oder Postdocs. Gleichzeitig müssen unsere Professorinnen und Professoren 18 Stunden pro Woche Vorlesungen und Seminare halten. Das ist doppelt so viel wie an Universitäten. Ohne zu- sätzliches Personal ist Forschung also kaum möglich. Über die Fördermittel, die wir von Dritten, also von öffent- lichen Stellen wie Land, Bund oder EU sowie von Stiftungen und Unter- nehmen einwerben, finanzieren wir im Grunde unsere gesamte Forschung mit mittlerweile mehr als dreihundert Mitarbeitenden. Herr Kubessa, Sie folgten 2006 auf den mittlerweile verstorbenen Prorektor Rainer Agsten. Was prägte Ihre Amtszeit? Kubessa: Innerhalb meiner Amtszeit haben wir das Drittmittelvolumen mehr als verdoppelt auf ungefähr sie- ben Millionen im Jahr 2011. Das ge- „Angewandte Forschung ist ein Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Hochschule, wobei sich beide idealerweise richtig ergänzen“

Thiele: Das ist ziemlich einzigartig, was da entstanden ist. Es war das erste Graduiertenzentrum an einer Hochschule für Angewandte Wissen- schaften in Sachsen. Wenn ich das mit meiner Zeit vergleiche: Ich hatte kei- ne Schulungsangebote, kein Schreib- Coaching und keine Austauschplatt- form. Und jetzt sind das rund hundert Personen, die sich in einem kursge- führten System vernetzen. Was da an intensiven Verbindungen entsteht, wird sowas von helfen. Herr Krabbes, wenn Sie zurück- schauen auf Ihre Amtszeit, was konnten Sie als Prorektor erreichen, worauf Sie stolz sind? Krabbes: Ich bin stolz, wie sich das Graduiertenzentrum entwickelt hat und dass es weiterhin Bestand hat. Was meine zweite Dienstzeit geprägt hat, war das Förderprogramm „Inno- vative Hochschule“. Da Erfolg zu ha- ben war quasi Pflicht, insofern war das sehr herausfordernd. Wir haben uns dort als Verbund der fünf säch- sischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften beworben – und es ist nicht trivial, fünf Hochschulen unter einen Hut zu bringen. Prof. Dr. Markus Krabbes (*1970) war von 2011 bis 2019 Prorektor für Forschung. Er wurde 2003 auf die Professur für Informa- tionssysteme berufen. Seit April 2022 ist er Rektor der Hochschule Merseburg. 30 Jahre HTWK Leipzig Nietner: Ich kann mich erinnern, dass die Universitäten, an denen koopera- tive Verfahren liefen, teilweise sehr hohe Hürden aufbauten für unsere Promovierenden. Die mussten ganze Fächer nochmal absolvieren. Krabbes: Nächstes Jahr wird vielleicht ein Viertel aller Bundesländer ein Promotionsrecht an Hochschulen ein- gerichtet haben. Da ist Sachsen nicht dabei. Die Universitäten haben hier starken Einfluss und stehen auf der Bremse. Thiele: Das kooperative Promotions- recht ist eine Hilfskonstruktion, die sich über viele Jahre bewährt hat. Aber jetzt ist es an der Zeit, den Fach- hochschulen einen einfacheren und direkteren Weg zu Promotionen zu er- möglichen. Nietner: Mein Vorschlag ist: Macht eine Evaluierung und guckt euch an, welche Einrichtung was leistet und welche dann das Recht erhält zu pro- movieren – unabhängig davon, ob es eine Universität oder eine Fachhoch- schule ist. Krabbes: Wir haben immer versucht, eine Qualität vorzuleben, die sich ab- hebt von der an den althergebrach- ten Universitäten. Deswegen haben wir Instrumente wie die Kompetenz- schule CompeTE+ geschaffen, aus der 2016 das Graduiertenzentrum wurde. R E T H C I L G A L H C S „Wir haben immer versucht, eine Qualität vorzuleben, die sich abhebt von der an den althergebrachten Universitäten“ 52

Graduiertenzentrum Gestärkt in die Promotion Vor mehr als fünf Jahren wurde das Graduiertenzentrum GradZ gegründet. Es begleitet Studierende und junge Forschende vor, während und nach der Promotion. Auch Doktorandin Ann-Kathrin Dieterle fand beim GradZ Unterstützung. R E T H C I L G A L H C S „Wie schreibe ich eine Doktorarbeit? Wer betreut mich dabei? Welche Kom- petenzen sind dafür wichtig?“ Fragen wie diese stellte sich Ann-Kathrin Dieterle noch vor dreieinhalb Jah- ren. Heute erforscht sie als Teil einer Nachwuchsforschungsgruppe digitale Transformationsprozesse in der säch- sischen Wirtschaft. In ihrer Doktor- arbeit untersucht sie, wie etablierte Unternehmen sich strategisch neu ausrichten und dabei mit Start-ups kooperieren, um widerstands- sowie veränderungsfähig zu sein. Antworten auf ihre anfänglichen Fra- gen zum Promovieren fand sie im Gespräch mit Susann Hannemann, Ann-Kathrin Dieterle (3. v. l.) beim Workshop des Qualifzierungsprogramms CompeTE+ 54 der Koordinatorin des Graduierten- zentrums GradZ der HTWK Leipzig. Gemeinsam besprachen sie die ersten Schritte. „Zu Beginn der Promotion stehen neben der Themenfindung Fragen der Finanzierung und der wis- senschaftlichen Begleitung im Vorder- grund“, so Hannemann. Neben der Be- treuung an der HTWK Leipzig ist eine weitere Professorin oder ein Professor einer Universität nötig, denn Hoch- schulen für Angewandte Wissenschaf- ten haben in Sachsen – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – aktuell noch kein eigenes Promotionsrecht. Wissenschaftlichen Nachwuchs fördern Bereits seit mehr als zehn Jahren unterstützt die HTWK Leipzig Nach- wuchsforschende wie Ann-Kathrin Dieterle, zunächst durch ein indivi- duelles Qualifizierungsprogramm in einer Kompetenzschule für Promo- vierende. Daraus ging im Sommer 2016 das GradZ hervor – das erste GradZ

Dr. Nele Drünert Viele Wege führen zu einer Promotion an der HTWK Leipzig – und auch danach geht es vielfältig weiter, wie die Portraits dieser vier Promovierten zeigen. Dr. Mirco Fuchs R E T H C I L G A L H C S „Die Digitalisierung soll Menschen helfen. Sie stehen im Mittelpunkt, nicht die Technik selbst“, davon ist Dr. Nele Drünert überzeugt. Die Psychologin unter- suchte in ihrer Promotion in Kooperation mit BMW Leipzig, ob und wie technische Gadgets wie Smart- watches Arbeitende bei der Montage von Autos unter- stützen können. Ihre Faszination für die Interaktion zwischen Mensch und Technik entdeckte die ge- bürtige Chemnitzerin während des Studiums in Jena. Das Thema führte die Psychologin schließlich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die HTWK Leipzig. „Promovieren war nicht mein ursprüngliches Ziel. Doch die Arbeit in der Forschungsgruppe ‚Soziales und Gesundheit‘ war so spannend – dann wollte ich auch den Doktortitel“, erinnert sie sich. Während und nach der Promotion sammelte Drünert in kleineren Leipziger IT-Firmen erste Erfahrungen als Beraterin und wechselte kürzlich zu Schwarz Produktion, die Lebensmittel für Lidl und Kaufland herstellen. So kann sie nun in einem Großunternehmen die Digita- lisierung mitgestalten. Immer mit der Haltung: Was bringt es den Menschen? Nach Feierabend paddeln die frisch Verheiratete und ihr Mann auf dem Karl- Heine-Kanal, spielen mit den beiden Katzen oder retten die Welt in Pen-and-Paper-Rollenspielen. 56 Dr. Mirco Fuchs entwickelt mithilfe künstlicher Intelli- genz Algorithmen, die Vitalparameter wie Herzschlag oder Blutdruck aus Kamerabildern ableiten können. Der 40-Jährige hat an der HTWK Leipzig Elektro- technik studiert und als Doktorand und Postdoc geforscht, bevor er im April 2021 Vertretungsprofes- sor für Computer Vision und Maschinelles Lernen an der Hochschule wurde. „Früher habe ich mir nie vorstellen können zu unterrichten. Ich bin eher ein stiller Beobachter“, so Fuchs. Mittlerweile gefällt es ihm sehr. Die Forschung, und damit das Laboratory for Biosignal Processing, darf bei Fuchs jedoch nicht zu kurz kommen. In der Forschungsgruppe, die er 2010 mitbegründete und bis heute leitet, erforschen zwölf Mitarbeitende und Promovierende, wie Infor- mationen aus Bild- und Videodaten extrahiert werden können. Dafür gibt es viele Einsatzbereiche, sei es in der Medizin zum kabellosen Erfassen des Herzschlags oder im Sport beim digitalen Auswerten von Trai- ningstechniken. Forschung und Lehre nehmen Fuchs momentan zeitlich voll ein; freie Momente genießt der gebürtige Leipziger zu Hause mit seiner Familie. Karrierewege

Tobias Flath vor einem 3D-Drucker mit dem neu entwickelten Dosierkopf im Labor der Pharmazeutischen Technologie der Leipziger Universitätsmedizin R E T H C I L G A L H C S Implantate mit Wirkstoff Menschen, die komplizierte Knochenverletzungen er- leiden und auf Implantate angewiesen sind, könnten in Zukunft optimaler versorgt werden. Das ermöglicht eine Entwicklung von Dr. Tobias Flath: Er erforschte im Rahmen seiner Doktorarbeit eine neue Technolo- gie für den 3D-Druck. Mit dieser können Medizinerin- nen und Mediziner individuelle Materialmischungen herstellen und Implantaten Medikamente beifügen. Für diese Forschungsleistung ehrte die Stiftung HTWK den Maschinenbau-Ingenieur mit dem Dissertations- preis 2021. Den Preis stiftete in diesem Jahr der Ener- gieversorger EnviaM. Flath entwickelte einen Dosierkopf für das FDM-Ver- fahren, eine 3D-Druck-Technologie, bei der Objekte aus schmelzfähigem Kunststoff oder Pasten aufge- baut werden. Das Novum an seinem Dosierkopf: Es können zwei Materialien zu einer homogenen Masse gemischt werden – und zwar während des 3D-Druck- vorgangs. Wenn bislang im FDM-Verfahren zwei Ma- terialien gemischt werden sollten, passierte das vor dem Druckvorgang unter Wärmezufuhr. Sollen dem Material spezielle Wirkstoffe beigefügt werden, die beispielsweise die Knochenregeneration anregen, darf die Temperatur 75 Grad Celsius nicht überstei- gen, sonst würden die Inhaltsstoffe zerstört. Flaths Entwicklung kann die Temperaturbelastung auf 65 bis 70 Grad Celsius reduzieren. Das gelingt über zwei Mechanismen: Zum einen werden die Materialien erst während des 3D-Drucks gemischt und zum anderen wird die maximale Temperatur erst kurz vor dem Austritt des Materials aus dem Dosierkopf erreicht. Ein weiterer Vorteil: Es lassen sich gleitende Mengen- anteile der gemischten Materialien realisieren. Das vermeidet Sollbruchstellen, an denen Implantate schneller zerbrechen könnten. Aktuell entwickelt der gelernte Krankenpfleger seine Dosierkopftechnologie für die Verpackungsherstel- lung weiter. Aber auch für medizinische Anwendun- gen soll sie weiter erforscht werden. Damit käme Flath seiner Vision näher: „Medizinerinnen und Me- diziner sollen künftig vor Ort, möglichst im OP-Saal, patientenindividuelle Implantate mit den passenden Inhaltsstoffen drucken und diese direkt einsetzen können.“ — frb 58 Dissertationspreis2021

Modulares Bauen Wohlfühlklima im Büro Wer sich am Arbeitsplatz wohlfühlt, ist produktiver. Dabei spielt die Temperatur eine wichtige Rolle. Wie der Spagat zwischen ange- nehmem Raumklima und Energieeinsparungen für den Klimaschutz gelingen kann, erprobt die Forschungsgruppe Nachhaltiges Bauen. Sie vergleicht dafür drei Baukonstruktionen. R E T H C I L G A L H C S Drei Raummodule stehen nebenein- ander auf dem Gelände des HTWK- Forschungszentrums in Leipzig-Reudnitz. Sie sind gleich und doch verschieden: Die Module bestehen jeweils aus einem Büroraum in identischer Größe. Sie sind demselben Klima ausgesetzt und mit zahlreichen Sensoren versehen. Alle drei werden von Stahlrahmen getragen, doch die restlichen Baustoffe unterscheiden sich. Das Raummodul linkerhand besteht aus Gipskartonplatten und einer verputz- ten Außendämmung aus Mineralwolle – ein gängiger Standard im Bau. Das Holz- Modul in der Mitte wurde innen mit Lehm verputzt, mit Holzfasern gedämmt und außen mit Lärchenholz verkleidet. Das Modul rechterhand besteht sowohl innen als auch außen aus Carbonbetonplat- ten, dazwischen sorgt Mineralwolle für Dämmung. An allen drei Konstruktionen untersucht die Forschungsgruppe Nach- haltiges Bauen am Institut für Beton- bau in Kooperation mit dem Modulbau- unternehmen Kleusberg das Raumklima. Der Fokus liegt auf dem sommerlichen 60 Diese drei Raummodule dienen der Forschungsgruppe Nachhaltiges Bauen als „lebendiges Labor“

Internationales Recht Was das Pariser Klimaschutzabkommen (nicht) leistet Text: Dr. Rebecca Schweier Um die Erderwärmung zu verlangsamen, müssen viele Staaten einen Beitrag leisten. Wie wirksam ist das Pariser Abkommen? Rechtswissenschaftlerinnen und Ökonomen untersuchen diese Frage gemeinsam. Eine gerechte Aufteilung der Beiträge Eine gerechte Aufteilung der Beiträge zum Klimaschutz – das wollen alle zum Klimaschutz – das wollen alle Staaten. Doch was das bedeutet, wird Staaten. Doch was das bedeutet, wird verschieden interpretiert verschieden interpretiert

Internationales Recht Dabei konnten 340 Probandinnen und Probanden über fünf Runden etwas Geld erspielen. Sie bekamen ein eige- nes Budget, das sie für sich behalten oder in einen gemeinsamen Topf ab- geben konnten. Je voller der gemein- same Topf, desto mehr sprang für alle heraus. Ein Drittel der Teilnehmen- den konnte fünf Runden lang frei sei- nen Einsatz wählen, ein Drittel durfte von Runde zu Runde seinen Einsatz nicht verringern und ein Drittel muss- te, wie im Pariser Abkommen, von Runde zu Runde mehr Geld in den gemeinsamen Topf werfen. „Wir beo- bachten einen deutlichen und statis- R E T H C I L G A L H C S Prof. Dr. Bodo Sturm (*1972) ist seit 2009 Professor für Volkswirtschaftslehre und Quan- titative Methoden an der HTWK Leipzig und zugleich assoziiertes Mitglied des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim. Er nutzt experimen- telle Wirtschaftsforschung, um Anreizprobleme der internationa- len Umweltpolitik zu erforschen. tisch signifikanten Effekt“, fasst Sturm die Erkenntnisse zusammen: „Die Spielenden reduzieren zu Beginn des Spiels ihre Beiträge für das Gemein- wohl, wenn sie in Zukunft ihre Beiträ- ge nicht absenken dürfen oder höhere Beiträge leisten müssen.“ Zwar führen solche Spielbedingungen im Verlauf zu steigenden Beitragsniveaus. Dieser Anstieg ist aber nicht stark genug, um die Effizienzverluste zu Beginn auszu- gleichen. Für die internationale Klimapolitik bedeutet das: Das Fortschrittskrite- rium, nach welchem alle Staaten ihre Anstrengungen alle fünf Jahre ver- stärken müssen, schadet möglicher- weise mehr als es nutzt. „Die Staaten- gemeinschaft sollte stattdessen stär- ker auf bedingt kooperative Maßnah- men setzen, die auf Gegenseitigkeit abzielen. Das auch im Völkervertrags- recht geläufige Prinzip ‚Leistung gegen Gegenleistung‘ könnte daher stärker angewendet werden. Wenn beispiels- weise Staaten in einer Art ‚Klimaklub‘ Steuern für CO₂-Emissionen erheben und gleichzeitig Importe aus Staaten ohne CO₂-Bepreisung zusätzlich be- steuern, gibt es für alle einen Anreiz, CO₂-Emissionen zu verringern“, so Sturm. Wer leistet zu wenig? In einer Sache sind sich die Staaten, die in den Klimaschutz investieren, einig: Die Beiträge sollen fair verteilt werden. Doch was das heißt, liegt im Auge des Betrachters. Ein Bei- spiel: Staaten wie China oder Indien empfinden es als fair, wenn die „his- torische Schuld“ eine Rolle spielt. Nach dieser Argumentation haben die Industriestaaten ihren Wohlstand über hundert Jahre lang auf Kosten des Klimas erwirtschaftet. Ärmere Staaten hingegen haben lange kaum CO₂-Emissionen und möchten ihr Wirtschaftswachstum nun nicht durch hohe Klimaschutz- zusagen dämpfen. Industriestaaten hingegen argumentieren, dass die kli- maschädlichen Auswirkungen hoher Treibhausgasemissionen in der Ver- gangenheit nicht bekannt waren. Weit zurückliegende Emissionen genau zu messen und einzelnen Staaten zuzu- ordnen, sei zudem kaum möglich. verursacht Es ist sehr schwierig zu beziffern, wer fairerweise wie viel zum Klima- schutz beitragen soll. Doch wenn die „Lastenverteilungsregeln“ klarer 64

Internationales Recht auf, wie die einzelnen Staaten das Re- gelwerk für sich interpretieren. Denn wenn viele Staaten einer ähnlichen Rechtsauslegung folgen, dann beein- flusst diese sogenannte ‚nachfolgende Übung‘ die Rechtsnorm selbst.“ Die Völkerrechtlerin hat 193 nationale Beiträge untersucht. Dabei fand sie heraus: Konsens herrscht darüber, dass die Staaten, die absolut betrach- tet mehr Treibhausgase ausstoßen, auch mehr in den Klimaschutz inves- tieren müssen. Außerdem legen die Staaten Wert auf eine faire Verteilung der Klimaschutzbeiträge – und am häufigsten wird unter „fair“ verstan- den, dass die Emissionen pro Kopf berücksichtigt werden. Hier enden al- lerdings bisher die Gemeinsamkeiten. Kein Wunder, denn die nationalen Beiträge unterscheiden sich von Staat zu Staat in Detailierungsgrad und Um- fang erheblich. „Um klarere Kriterien für die Lasten- verteilungsregeln zu erlangen, müss- ten die nationalen Beiträge einheit- licher werden. Deshalb habe ich eine offene Tabelle für die Lastenvertei- lung entwickelt, die die Staaten den NDCs beilegen könnten“, so Will. Die Vertragsstaatenkonferenz hat 2021 in Glasgow Berichtstabellen für andere Themenbereiche beschlossen. Für die Lastenverteilung gibt es ein sol- ches Format bisher noch nicht. Will: „Natürlich kann man die Staaten zu nichts zwingen. Aber wenn sie sich überhaupt zu bestimmten Punkten positionieren – also beispielsweise dazu, welche Kriterien für die Lasten- verteilung ihnen am wichtigsten sind – dann schafft das mehr Transparenz über die Maßstäbe, wer wie viel zum Klimaschutz beitragen soll.“ Die Zeit zu handeln wird immer knap- per. Schon in wenigen Jahrzehnten könnte die Erde so warm werden, dass ein unumkehrbarer Erwärmungs- kreislauf in Gang kommt. Doch nur auf völkerrechtliche Diplomatie als Wunderwaffe gegen den Klimawan- del zu setzen, findet Will naiv. „Die Erwartungen sind zu hoch“, so ihre Einschätzung. „Wenn es allerdings ge- lingt, einige Mechanismen im Pariser Abkommen zu optimieren – durch mehr Transparenz in den freiwilligen nationalen Beiträgen der einzelnen Staaten, das Vermeiden von Fehlan- reizen und zusätzliche preisbasierte Anreize – dann kann das Abkommen mittelfristig zu größeren internationa- len Klimaschutzanstrengungen füh- ren.“ — R E T H C I L G A L H C S Ausgewählte Publikationen Gallier, C.; Sturm, B. (2021): The Ratchet Effect in Social Dilemmas, Journal of Economic Behavior and Organization 186: 251–268, https://doi.org/10.1016/j.jebo.2021.03.022 Will, U.; Manger-Nestler, C. (2021): Fairness, Equity and Justice in the Paris Agreement: Terms and Operationalization of Differentiation, Leiden Journal of International Law 34(2): 397–420, https://doi.org/10.1017/S0922156521000078 Will, U. (2022): Differentiation in the NDCs to the Paris Agreement – A Legal and Empirical Analysis, Carbon & Climate Law Review 16(1): 56–72, https://doi.org/10.21552/cclr/2022/1/8 66 Die Klimaziele der EU Alle 27 Mitgliedsstaaten der EU haben ein gemeinsames Klima- schutzziel im Pariser Abkom- men vereinbart. Sie wollen ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 reduzieren und bis 2050 klima- neutral werden. Als Instrumente nutzt die EU einen Emissions- handel, nunmehr mit stärkerer Berücksichtigung des Verkehrs- sektors, und eine Lastenteilungs- verordnung, die den einzelnen EU-Mitgliedern konkrete Ziele für Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und kleine Unter- nehmen vorgibt. Vereinbart wurde zudem der „European Green Deal“, ein durch Finanzmittel und ein EU-Klimaschutzgesetz unterfüt- tertes Konzept, das eine Brücke zwischen dem Pariser Abkommen und den nationalen Gesetzen der EU-Mitgliedsstaaten schlägt. Die Klimaziele Deutschlands Deutschland will bis 2030 seine Treibhausgasemissionen um 65 Prozent gegenüber 1990 redu- zieren und bereits bis 2045 klima- neutral werden. Bis 2038 sollen die Kohlekraftwerke vom Netz gehen. Mit dem Sofortprogramm Klima- schutz 2022 sollen acht Milliarden Euro in eine Industrie ohne Kohle, in grünen Wasserstoff und grünen Stahl, in energetische Gebäude- sanierung und klimafreundlichen Verkehr fließen. Über die Hälfte der Mittel sind für Fördermaß- nahmen für klimafreundliche Gebäude vorgesehen.

Digitalisieren bis zu 3.000 Einzel- teile der Akkordeons: Maschinen- bau-Professor Johannes Zentner, Max Böhme und Moritz Leo Neubert (v. l.) Weltmeister-Akkordeons digitalisiert R E T H C I L G A L H C S Weltmeister ist nicht nur ein ersehnter Titel im Sport, sondern auch der Name der ältesten Akkordeon- Manufaktur der Welt. Um für die Zukunft gut aufge- stellt zu sein, digitalisiert der Akkordeon-Hersteller in einem gemeinsamen Entwicklungsprojekt mit der HTWK Leipzig die Fertigungsunterlagen und Monta- geanleitungen für seine Instrumente. Johannes Zent- ner, HTWK-Professor für Konstruktion, entwickelt gemeinsam mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern Max Böhme und Moritz Leo Neubert detailgetreue, digitale 3D-Modelle der Instrumente. Dabei erforscht Zentner auch Wege zur Gewichtsreduzierung und zur Verringerung unerwünschter Geräusche beim Spielen der Instrumente, ohne ihre Funktion und Spielbarkeit zu beeinträchtigen. Aus den digitalen Modellen er- stellt er Fertigungsanweisungen und digitale Anima- tionen, die Monteurinnen und Monteure Schritt für Schritt beim Akkordeon-Bau anleiten sollen. „Dafür zerlegen wir die Instrumente bis zum kleinsten Teil und vermessen sie mithilfe analoger Messtechnik und digitaler Verfahren wie Fotogrammetrie und 3D- Scannen“, erklärt Zentner. Weltmeister-Akkordeons bestehen aus bis zu 3.000 Einzelteilen; der Aufbau der Instrumente ist dementsprechend kompliziert. Aufgrund bewegter Zeiten gingen Fertigungsunterla- gen und andere Dokumente des Instrumentenbauers teilweise verloren: Im Laufe der über hundertfünfzig- jährigen Geschichte des Akkordeon-Baus im sächsi- 68 schen Klingenthal sorgten zwei Weltkriege, schwieri- ge Jahre nach der friedlichen Revolution und mehre- re Besitzerwechsel für Brüche in der Dokumentation von Bauanleitungen. Die Lücke schließen nun die di- gitalen 3D-Modelle der Akkordeons. Zentner hat dafür ein gutes Händchen, denn der Maschinenbau-Inge- nieur ist selbst leidenschaftlicher Akkordeon-Spieler. Moritz Leo Neubert erstellt die 3D-Modelle der weißen und schwarzen Pianotasten des Weltmeister- Akkordeons Cassotto 374

Verpackungen „Herumliegende Masken sind ein Nebenschauplatz“ Masken: Seit zwei Jahren liegen sie zwischen Zigarettenstummeln und Kaugummis als ungeliebter Müll auf den Straßen. Ob sich das Müllproblem durch die Covid-19-Pandemie verschlimmert hat, fragen wir den HTWK-Verpackungsexperten Prof. Eugen Herzau im Interview. Sein Fazit: Durch die Pandemie wurde sichtbar, was schon da war, auch beim Thema Abfall. Müll war und ist ein Problem. R E T H C I L G A L H C S Laut Weltgesundheitsorganisation entstehen durch Corona Millionen Tonnen zusätzlicher Müll. Welche Materialien häufen sich nun? Prof. Eugen Herzau: Durch die Pande- mie ist der Verpackungsumsatz weiter gestiegen. Das bedeutet, dass auch mehr Abfall entsteht. Das liegt hauptsäch- lich an zwei Gründen: Zum einen wuchs der Onlinehandel aufgrund geschlosse- ner Läden und Isolation. Zum anderen kamen im Medizinbereich neue Impfun- gen und das Testen hinzu. Aus hygieni- schen Gründen ist das Zubehör Einweg- Ware und muss steril sein. Das ist mit erheblichem Verpackungsaufwand ver- bunden. Die Verpackungen bestehen aus beschichtetem Papier, Kunststoffen oder Kunststoffverbunden. Das bedeutet: Sie sind weniger gut zu recyceln. Es einfacher zu gestalten, ginge jedoch zulasten der Sterilität der Medizinprodukte und der sogenannten Maschinengängigkeit, also der Qualität des Verpackungsmaterials. Die Vorgaben dafür sind sehr speziell und die Vorlaufphasen der Entwicklung lang – ein Jahr mindestens. Auf der anderen Seite sind diese strengen Vorgaben wich- tig, denn sie bringen Sicherheit für uns Menschen. Das ist im Zweifel wichtiger als Umweltschutz. Was müssen Verpackungen von Medikamenten leisten? Grundsätzlich müssen medizinische Wirkstoffe verlässlich intendierte Wirkung entfalten. Das funktioniert nur, ihre wenn sie sich während des Transports und der Lagerung nicht verändern. Meist handelt es sich um chemisch-biologi- sche Substanzen, die sehr empfindlich sind, weil sie mit Sauerstoff, Wasser oder Ähnlichem reagieren würden. Die Ver- packung muss diesen Wirkstoff deshalb vor allen möglichen Einflüssen schützen, oftmals auch vor Licht. Oder nehmen wir das Beispiel des Biontech-Impfstoffs: Dieser braucht eine spezielle Kühlkette und ist nach dem Auftauen nur wenige Stunden halt- und nutzbar. Das ist noch viel krasser als bei Lebensmitteln, und das leuchtet auch ein. 70

Messtechnik So fahren Straßen- bahnen leiser Oft sind verschlissene Schienen Schuld an lauten Straßenbahnen. Ein Diagnosesystem der HTWK Leipzig und ihrer Kooperationspart- ner soll Abhilfe schaffen. Es überwacht den Zustand der Schienen während der Fahrt und hilft so, sie intakt zu halten. R E T H C I L G A L H C S Seit mehr als 120 Jahren rattern sie durch Leipzig: die Straßenbahnen. Im Laufe der Zeit wurden sie moderner, schneller und bequemer. Mit Strom betrieben, sind sie eine umweltfreundliche Alternative zum Auto und für eine klimaneutrale Zukunft der Stadt von zentraler Bedeutung. Doch mitunter sind die Bahnen ziemlich laut. Schuld daran sind oft die Schienen. Temperaturschwankungen, Veränderun- gen des Gleisbetts, unterschiedliche Fahrgeschwindigkeiten und das Brem- sen und Beschleunigen der Bahn an im- mer denselben Stellen führen im Laufe der Zeit zu Unebenheiten in der Schiene. Werden diese frühzeitig bemerkt, kön- nen die Schienen kostengünstig und oft ohne Streckensperrung nachgeschliffen werden. Doch für eine frühzeitige und automatisierte Schadenserkennung fehlt bislang die passende Technik. In Leipzig werden die gesamten Gleisanlagen von einem Mitarbeiter der Leipziger Verkehrs- betriebe (LVB) persönlich inspiziert. Die- ser sogenannte Schienenläufer prüft die Schienen visuell und analysiert ihre Be- schaffenheit. Bestimmte Gleisabschnitte untersucht er aus Kosten- und Aufwands- 72 Werden Schienenunebenheiten frühzeitig erkannt, können sie durch einen Schienenschleifzug zügig und kostengünstig behoben werden

Datenübertragung Daten aus der Lampe Licht ist allgegenwärtig. Lampen beleuchten Wohnzimmer, Büroräume und Fabrikhallen. Leuchtdioden, auch LEDs genannt, haben Glühbirnen und Energiesparlampen inzwischen größten- teils verdrängt, da sie effizienter sind. Das eröffnet neue Möglich- keiten, denn LEDs können weitaus mehr als nur leuchten. Licht, das ist elektromagnetische Strah- lung. Wir Menschen sehen davon nur einen kleinen Wellenbereich: die Farben des Regenbogens. Zur Datenübertragung nutzen wir bereits infrarotes Licht, zum Beispiel in Fernbedienungen oder Glas- fasernetzen. Doch auch das sichtbare Licht hat mehr Potenzial als reine Be- leuchtung. Die Technik dahinter nennt sich Visible Light Communication (VLC): Kommunikation über sichtbares Licht. Gemeint sind weiße Leuchtdioden, die dank eines kleinen technischen Zusatz- moduls Daten übertragen können – über- all dorthin, wohin das Licht der Lampe strahlt. Die Professoren Slavisa Aleksic und Christian-Alexander Bunge untersuchen an der HTWK-Fakultät Digitale Transfor- mation, wie eine solche Kommunikation über LED-Lampen möglich ist. „Zunächst galt VLC als potenzielle Alternative zum Drahtlosnetzwerk WLAN. Dieser Zahn ist gezogen: Funk hat sich durchgesetzt“, fasst Bunge die Entwicklung der For- schung an VLC zusammen. Doch für zwei Bereiche ist die Kommunikation über sichtbares Licht durchaus interessant: für die Medizin und für die Industrie. Datenlicht in der Medizin Operationssäle von Krankenhäusern sind heute mit Spitzentechnologie ausgestat- tet. Ärztinnen und Ärzte schicken kleinste Sensoren durch Blutbahnen, trennen Ge- webe mit millimetergenauen Lasern und Untersuchen die Störanfälligkeit von Lichtkommunikation: Christian-Alexander Bunge (links) und Mete Ramazan beim Experiment am Laser und Netzwerk- analysator 7474

Mit einem Klick vom Sofa in die Hochschule Bei der ersten virtuellen Langen Nacht der Wissenschaften am 16. Juli 2021 in Leipzig präsentierten sich 20 Lehr- und Forschungs- bereiche der HTWK Leipzig online auf spielerische, informative und interaktive Art. 40 Programmpunkte bot die HTWK Leipzig zur Wissenschaftsnacht an 1.600 Zugriffe auf Live-Veranstaltungen, interaktive Formate und Videos der HTWK Leipzig 76

Kreativität Wie Ideen entstehen Kreativ auf Knopfdruck – das können die Wenigsten. Wer jedoch allein oder im Team auf Einfälle hofft, kann mit der richtigen Herangehensweise und inspirierenden Orten eine gute Grundlage schaffen. Ein solcher Ort ist der neue Kreativraum der Gründungs- beratung Startbahn 13. R E T H C I L G A L H C S Die besten Ideen kommen meist unver- hofft. Nämlich dann, wenn das Gehirn entspannt, zum Beispiel während wir unter der Dusche stehen, einen Spazier- gang machen oder Fahrrad fahren. Doch wie vorgehen, wenn der kreative Einfall am Arbeitsplatz gefragt ist? Eine Möglich- keit besteht darin, kreative Phasen einzu- richten: Zeiten, die bewusst darauf aus- gerichtet sind, neue Ideen zu finden und diese bestenfalls gleich auszuprobieren. Aber auch kreativitätsfördernde Orte füh- ren zum Erfolg. Viele Unternehmen und Start-ups versuchen, Büroräume durch eine moderne Einrichtung inspirierend zu gestalten. Wahre Orte der Kreativi- tät sind sie dennoch selten. Zudem ver- spricht es mehr Erfolg, das eigene Büro für einen Tapetenwechsel zu verlassen. Einen solchen Raum für kreative Impul- se auf dem Weg zur eigenen Unterneh- mensgründung, beim Verwirklichen von Ideen oder beim Lösen eines wissen- schaftlichen Problems hat Startbahn 13 geschaffen. Die Gründungsberatung der HTWK Leipzig gestaltete mit dem Krea- tivraum einen Ort zum Nachdenken, Experimentieren, Vernetzen und Wach- sen. Wer gründet, schafft Neues – krea- tive Phasen sind daher im Gründungs- prozess fundamental. Im Flow bleiben Unterstützung erhielten sie dabei von In- nenarchitekt Stefan Knopf. Er ist Teil des Projekts Weltenerbauer und unterstützt Firmen dabei, inspirierende Räume zu gestalten. Seine Maxime: Um kreativ arbeiten zu können und die Gedanken frei zu entfalten, braucht es einen Raum, in dem alles in greifbarer Nähe ist. Ähn- lich wie eine gute Werkstatt sollten Krea- tivräume geordnet sein. Die räumliche Ordnung, die Abläufe und die damit ver- bundenen Verhaltensmuster prägen sich so bei den Nutzenden leichter ein und helfen dabei, im Flow zu bleiben. Denn Fragen wie „Wo ist der Stift?“ oder „Wie geht der Beamer an?“ rauben kostbare Zeit und werden im neuen Kreativraum vermieden: „Je besser der Raum kura- tiert und vorbereitet ist, desto effektiver wird der Prozess“, so Knopf. 78 Kreativität – was ist das? Kreativität ist die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder ori- ginell und dabei nützlich oder brauchbar ist, so die Definition von Brunco und Jaeger in „The Standard Definition of Creativity“. Das passiert im Kopf Ganz gleich, ob wir ein Bild malen, ein Problem lösen oder ein Experi- ment durchführen wollen – am Anfang steht meist ein Brainstor- ming. Dabei denkt unser Gehirn in viele Richtungen und sammelt Ideen. In der Hirnforschung wird dieser Prozess als divergentes Denken bezeichnet. Danach wägen wir beim konvergenten Denken ab und wählen die vielver- sprechendste Idee aus. In diesem Wechselspiel entsteht Kreativität.

Datenschutz Mode und Technologie für mehr Privatsphäre R E T H C I L G A L H C S Überwachungskameras an Bahnhöfen, auf Marktplätzen, in Parkanlagen – es gibt immer weniger öffentliche Orte, an denen wir uns anonym bewegen können. Das wollen die Modedesignerin Nicole Scheller und der Informatiker Marcel Göbe ändern. Gleichzeitig möchten sie für Privatsphäre und Datenschutz sensi- bilisieren. Gemeinsam arbeitet das Grün- dungsteam Urban Privacy an der HTWK Leipzig an einer Modekollektion, die vor ungewollter Datenaufzeichnung schützt. Mit biometrischer Erkennung können Kameras die Identitäten von gefilmten Menschen zuordnen. Dafür sind Ge- sichtsmerkmale wie Augen, Nase und Mund wichtig. In Kombination mit einer Bewegungsanalyse kann eine Person mit einer bis zu 98-prozentigen Genauigkeit identifiziert werden. Als Informatiker kennt Marcel Göbe die dazu eingesetz- ten Methoden der künstlichen Intelligenz und entwickelt gemeinsam mit Nicole Scheller modische und technische Gegenmaßnahmen: Gegen die Gesichts- erkennung geht Urban Privacy mit einem speziell entwickelten Schwarz-Weiß- Muster vor. Auf die Kleidung gedruckt, verwirrt es den Algorithmus, der neben dem des Trägers oder der Trägerin eine Vielzahl anderer Gesichter erkennt, so- dass eine eindeutige Zuordnung nicht mehr möglich ist. Die weiten Formen der Kollektion verbergen wichtige Hinweise auf Geschlecht, Größe und Gewicht, die für eine Bewegungsanalyse wichtig sind. 80 Marcel Göbe und Nicole Scheller von Urban Privacy Startbahn 13 unterstützt. Mit ersten Er- folgen: 2020 konnte Urban Privacy seine Idee bei der Leipziger Gründernacht vor- stellen und warb später ein einjähriges Exist-Gründungsstipendium des Bundes- wirtschaftsministeriums ein. „Wir waren nicht sicher, ob das Thema zu politisch ist. Aber es geht um die Privatsphäre des Einzelnen – und diese Botschaft kam an“, so Scheller. Seit Januar 2022 entwickeln Scheller und Göbe in Vollzeit die bisherige Kollektion weiter. Zum Auslaufen der Förderung im Dezember 2022 ist eine Crowdfunding- Kampagne geplant, mit der die gesamte Kollektion auf den Markt kommen soll. „Uns ist bewusst, dass wir einen Kampf gegen Windmühlen führen, aber das ist zugleich unser Antrieb“, beschreibt Scheller den Einsatz gegen Überwa- chung. — sb Gegen Nachtsichtkameras schützen in die Kleidung gewobene LEDs, die die Ka- meras blenden. Erste funktionierende Prototypen einer Datenschutzkleidung entwickelte Nicole Scheller 2017 in ihrer Bachelorarbeit. Seitdem vervollständigt sie die Kollek- tion ständig weiter. Dazu gehört eine spezielle Handytasche. Ein Smartphone überträgt normalerweise auch dann Daten, wenn es sich im Flugmodus befin- det oder ausgeschaltet ist. Rund um die Uhr und überall. Wenn sich das Smart- phone jedoch in der Datenschutz-Tasche befindet, gibt es keine eingehenden An- rufe, keine Internetverbindung und kei- nerlei Ortungsmöglichkeiten. Um ihre Datenschutz-Mode auf den Markt zu bringen, lassen sich Göbe und Scheller von der HTWK Leipzig unterstützen. Göbe hat hier studiert und stellte den Kontakt zu Informatik-Professor Thomas Riechert her, der das Gründungsteam betreut. Zusätzlich werden Scheller und Göbe von der HTWK-Gründungsberatung

Dieses tolle Ding … … ist ein handgeführter 3D-Laserscanner namens Artec Leo. … kann ein Objekt dreidimensional aus jedem Winkel erfassen. Ein 3D-Modell wird innerhalb von Sekunden erzeugt und kann später auf den Computer übertragen werden. … hilft Forschenden, Geometrien von Gebäuden, archäo- logischen Funden oder verdichtetem Sand schneller zu vermessen und Eigenschaften zu berechnen. … gehört zur Forschungsgruppe FLEX. Das Team um Prof. Alexander Stahr leiht den Handscanner regelmäßig auch anderen Forschenden der HTWK Leipzig. … kostete 25.700 Euro und wurde im Rahmen von HTWK-Invest aus Haushaltsmitteln des Freistaates Sachsen finanziert.

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