Einblicke Forschungsmagazin 2020/21 Schwerpunkt: Energiewende

Ralf Thiele Editorial Liebe Leserinnen und Leser, als neuer Prorektor für Forschung an der HTWK Leipzig begrüße ich Sie herzlich zur neunten Edition der Einblicke. Das Magazin stellt Forschungsprojekte vor, die unsere Hochschule gemeinsam mit Unter- nehmen aus der Praxis vorantreibt. Aufgabe der For- schung ist es, das Wissen für Veränderungsprozesse bereitzustellen – dabei sehen wir uns der Nachhaltig- keit verpflichtet. So forschen wir bereits seit langem unter anderem an verbesserten Materialien, optimier- tem Recycling und erneuerbaren Energien. In dieser Ausgabe rücken wir die Energiewende als wichtigen Schritt zu mehr Nachhaltigkeit in den Fokus und zei- gen, woran unsere Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler forschen, damit Deutschland bis 2050 auf fossile Quellen zur Energiegewinnung verzichten kann und trotzdem zuverlässig Strom fließt. Auch für viele andere gesellschaftlich relevante Themen finden unsere Forscherinnen und Forscher Erkenntnisse und Lösungsansätze. So entwickeln sie eine neue Konstruktionsidee für gekrümmte Fas- saden in der Architektur, Strategien für eine gesund- heitsfördernde Gestaltung von Städten, Handlungs- anweisungen für bessere Arbeitsbedingungen in Kin- dertagesstätten und vieles mehr. Besonderes Engage- ment zeigte ein Forscherteam, das innerhalb kurzer Zeit an einem Notfall-Beatmungsgerät für Covid-19- Erkrankte arbeitete. Ihnen und allen anderen, die sich in unterschied- licher Weise mit Forschung beschäftigen und sie mit Engagement, Geduld und Fleiß ermöglichen, gilt mein besonderer Dank. Das ist keine Selbstverständlichkeit, erst recht nicht unter den aktuellen Bedingungen der Pandemie, deren langfristige Auswirkungen wir heute nur erahnen können. Unsere Strukturen, die wir gemeinsam über Jahre auf- gebaut haben, müssen nun gesichert und stabilisiert werden, damit wir uns auch künftig erfolgreich den drängenden Themen der Zukunft widmen können. Dazu sind wir weiterhin auf eine Mitwirkung der Wirt- schaft und auf verlässliche Rahmenbedingungen der Politik angewiesen. Viel Vergnügen bei der Lektüre unseres Magazins. Ihr Prof. Dr. Ralf Thiele, Prorektor für Forschung an der HTWK Leipzig 3

In Zahlen Sonderteil  6 Forschungsstatistik 2019 und 2020 der HTWK Leipzig Drittmittel – Finanzvolumen – Personal und Promovierende  46 Gründungsberatung: Hilfe beim Durchstarten Startbahn 13 berät im Netz und vor Ort Schlaglichter  52 Gesundheit: Spielend gegen Übergewicht Dissertationspreis 2020 für Dr. Ulrike Igel  54 Sicherheit: Seine Methode findet Schäden Dissertationspreis 2019 für Dr. Max Vollmering  55 Verpackungen: Effizienter produzieren dank digitaler Simulation Nachwuchsforschungsgruppe SmartKMU erneuert Umformprozesse von Materialien  56 Architekturgeschichte: Wie Architektur Theater beeinflusst Theaterhäuser prägen die Identität einer Stadt  60 Wirtschaft: Wie demokratisch ist die Europäische Zentralbank? Zur Wirtschaftspolitik der Aufsichtsbehörde  60 Arbeitswelt: Beschäftigte im digitalen Wandel mitnehmen Das Zentrum digitale Arbeit unterstützt bei der digitalen Transformation  61 Medizintechnik: Mit Technik gegen Corona Ein Notfall-Beatmungsgerät könnte Covid-19-Erkrankten das Leben retten  62 Häusliche Gewalt: Bedroht in den eigenen vier Wänden Der Ort spielt meist eine besondere Rolle bei Gewalttaten  74 Abo und Impressum  64 Bauwesen: So schlank werden die Häuser der Zukunft Das lässt sich bald im Dresdner „Cube“ besichtigen  66 Energieversorgung: Stellschrauben im Energiesystem Ein Simulationsmodell prüft Maß- nahmen zur Erreichung der Klimaziele  67 3D-Druck: Forschung und Design Eine Konstruk- tionsidee für organisch gekrümmte Gebäudefassaden  68 Rechtsprechung: Deutsche Mediengesetze nicht EU-konform Gesetzeswidrige Inhalte in sozialen Medien sollen unterbunden werden  68 Open Access: Freies Wissen für alle Mit dem Workflow-Modell Veröffentlichungskosten von Monografien berechnen  69 Gaming: Leipzig führt die Games-Branche in Sachsen an Neue Studie über die Beschäftigten und ihre Arbeitszufriedenheit  70 Soziale Arbeit: Kita-Arbeit ist kein Kinderspiel Pädagoginnen und Pädagogen benötigen bessere Rahmenbedingungen  72 Nachrichtentechnik: Tierforschung aus dem Weltall Per Funktechnik und der Raumstation ISS werden die Wanderrouten von Tieren beobachtet 5

342 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter … wurden 2020 aus Drittmitteln finanziert. Sie arbeiten in zahlreichen Forschungsvorhaben, in Projekten zur Interna- tionalisierung und zur Verbesserung der Studienbedingungen. Die zusätzlichen Stellen tragen maßgeblich zum Innovations- potenzial der Hochschule bei. Entwicklung 2016–2020 Drittmittelbeschäftigte 248 246 257 577 Stellen*1 2019 342 290 2019 187 Drittmittel- und sonstige Stellen 390 Haushaltsstellen davon Professuren 178 davon Mitarbeiterstellen 212 In Zahlen 603 Stellen*1 2020 2020 213 390 178 212 2016 2017 2018 2019 2020 *1 Vollzeitäquivalente 91 Promovierende … wurden 2020 von Professorinnen und Professoren der HTWK Leipzig bei ihrem Promotionsvorhaben in Koope- ration mit einer Universität betreut. Promotionsvorhaben in Kooperation mit Universitäten 7 73 11 71 6 78 13 12 97 91 abgeschlossen laufend 1.098 Absolventinnen und Absolventen im Jahr 2020*2 2016 2017 2018 2019 2020 Alle Angaben zum Stichtag 31.12.2019 bzw. 31.12.2020, soweit nicht anders angegeben. 7

2038 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland stillgelegt werden Sonne – und nicht Kohle – werde langfristig für unsere Energiegewinnung wichtig sein. Da- von war der Leipziger Chemie-Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald bereits 1909 überzeugt. Denn Kohlevorräte seien endlich. Um diese nicht gänz- lich aufzubrauchen, plädierte er bereits damals für ein Umdenken. Für diese Idee entstand in den 1980er Jahren der Begriff Energiewende. Kohle, Erdöl und Erdgas, die bisherigen fossilen Energieträger, sollen durch regenerative Ressourcen wie Sonne, Wind, Was- ser, Biomasse oder Geothermie ersetzt werden, denn sie sind nahezu unerschöpflich und dazu klimafreundlich. Beim Verbrennen von Kohle, Öl und Gas entsteht hingegen Kohlenstoffdioxid, kurz CO2. Indem es in die Atmosphäre gelangt, sorgt es für eine zunehmende Erderwärmung. Die Folgen spüren die Menschen unter anderem an der Zunahme extremer Witterungen. Kohle war bis in die 1950er Jahre die wichtigste Ressource für die Energieversorgung in Deutsch- land, bis günstigere Kohle sowie billigeres Erdöl importiert wurden. Doch auch das Erdöl wurde immer teurer und geriet in den 1970er Jahren selbst in die Kritik. Es entbrannte ein Diskurs darüber, dass die Ölvorräte endlich und damit nicht zukunftsfähig sind. Eine Alternative schien eine Zeit lang Energie aus Atomkraft zu sein. Doch das bis heute ungelöste Pro- blem der Endlagerung nuklearer Abfälle und die Angst vor Folgen möglicher Unfälle sind spätestens nach den Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima so offen- sichtlich, dass sie die überfällige Energiewen- de endgültig eingeleitet haben. So beschloss die Bundesregierung, bis Ende 2022 aus der Atom- energie auszusteigen, bis 2038 keinen Strom mehr aus Kohle zu gewinnen und bis 2050 schließlich ganz auf fossile Energieträger zu verzichten. Da- durch sollen die Treibhausgase soweit reduziert werden, dass sie keinen negativen Einfluss mehr auf das Klima ausüben. Eine umweltverträgliche, nachhaltige und wirt- schaftlich effiziente Nutzung von Energie aus er- neuerbaren Ressourcen ist technisch bereits mög- lich. Allerdings haben Sonne, Wind und Co. auch Eigenheiten, an die wir unser Energiesystem erst noch anpassen müssen. In Zeiten, in denen we- der ausreichend Sonne noch Wind zur Verfügung stehen, können wir unseren jährlich steigenden Bedarf an Energie derzeit nur mit einem Mix aus fossilen und regenerativen Quellen decken. Denn ohne Strom funktioniert schließlich nahezu nichts in unserer modernen Gesellschaft. Um die vielfältigen Herausforderungen der Ener- giewende zu meistern, forschen die Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftler der HTWK Leipzig in unterschiedlichen Feldern. Strom und Wärme sind nur zwei Beispiele, denn die Energiewen- de betrifft im Grunde alle Lebens- und Arbeits- bereiche unserer Gesellschaft. So startete unter anderem im Oktober 2019 das dreijährige For- schungsprojekt „Leipziger BlauGrün“, bei dem mehrere Forschungseinrichtungen und Unter- nehmen Lösungen für eine klimafreundliche Wasser- und Energieinfrastruktur erarbeiten. Weitere Forschungsprojekte unserer Hochschule befassen sich mit Solartechnik, Stromnetzen für erneuerbare Energien und Wasserstoff als Ener- giespeicher – drei Vorhaben, die wir im folgenden Schwerpunktkapitel beleuchten. E N E R G I E W E N D E 86 % der Deutschen erachten die Energiewende als wichtig oder sehr wichtig 9

46 % trugen erneuerbare Energien 2020 zur Deckung des Strom- bedarfs in Deutschland bei Prof. Dr. Anke Bucher (*1967) ist seit 2007 Professorin für Angewandte Mechanik an der HTWK Leipzig. Nach ihrem Ma- schinenbau-Studium an der TU Dresden arbeitete sie als Berech- nungsingenieurin in Frankreich und promovierte danach zur Mechanik von Festkörpern. Ihre Erfahrungen in der FEM-Berech- nung fließen auch in ihrem aktu- ellen Forschungsprojekt zur Geo- thermie ein. Die in der Erdkruste gespeicherte Energie könnte ähn- lich wie Sonne und Wind zur Strom- und Wärmegewinnung genutzt werden. Prof. Dr. Ralf Wehrspohn (*1970) ist seit 2019 Mitglied des Vorstands der Fraunhofer-Gesell- schaft und dort für Technologie- marketing und Geschäftsmodelle zuständig. Zuvor leitete der pro- movierte Physiker ab 2006 das Fraunhofer-Institut für Mikrostruk- tur von Werkstoffen und Systemen in Halle. Daneben ist er Vorstands- mitglied des Forschungsverbunds Hypos, der sich mit der Nutzung von grünem Wasserstoff beschäf- tigt. 2018 erarbeitete er als Mitglied der „Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für den Kohleausstieg. Ralf Hiltenkamp (*1961) ist seit 2005 Mitglied des Vorstands bei der Envia Mittel- deutsche Energie AG (EnviaM) in Chemnitz. Seit 2009 ist er außer- dem Geschäftsführer der Mitgas Mitteldeutsche Gasversorgung GmbH, einem Tochterunternehmen der EnviaM. Zuvor war er mehrere Jahre Aufsichtsratsmitglied bei RWE. Was verstehen Sie unter dem Begriff „Energiewende“? Prof. Ralf Wehrspohn: Ich verstehe da- runter den Wandel zu einer nachhalti- gen Industriegesellschaft. Unsere hat bislang stark vom Export gelebt und soll nun ohne fossile Quellen auskom- men. Prof. Anke Bucher: Für mich bedeu- tet Energiewende die Versorgung der Wirtschaft und der Bevölkerung mit Strom und Wärme aus regenerativen Quellen, indem wir die vorhandenen Ressourcen überlegt und nachhaltig nutzen. Ralf Hiltenkamp: Die Energiewende betrachte ich als ein Gemeinschafts- werk. Politik, Wirtschaft, Wissen- schaft sowie Verbraucherinnen und Verbrau cher sind hier genauso ge- fordert wie die Energiebranche. Gemeinsam müssen wir die gesteck- ten Klimaziele – auch wenn sie ambi- tioniert sind – bis 2050 erreichen. Ein Scheitern ist an dieser Stelle nicht er- laubt, besonders nicht von einem so hoch entwickelten Energieland wie Deutschland. Worin sehen Sie die größte Heraus- forderung bei der Energiewende? Bucher: Die größte Herausforderung sehe ich darin, dass wir für die Errei- chung eines nachhaltigen Wirtschaf- tens und Versorgens neue Techno- logien und Konzepte benötigen, die aktuell entwickelt und etabliert wer- den müssen. Dafür müssen die einge- fahrenen Wege verlassen werden und das tut natürlich all denjenigen weh, die auf diese Weise gut gelebt und ver- dient haben. Erneuerbare Energien Wehrspohn: Die Herausforderun gen ergeben sich auch aus den vier Pha- sen, in die die Energiewende ein geteilt wird. In der ersten Phase bis etwa 2017 wurden die erneuerbaren Energien ausgebaut, sodass sie sich wirtschaft- lich am Markt als günsti ge Energie- träger etablieren konnten. Jetzt in der zweiten Phase, der Digitalisierung, muss das Netz intelligent gemacht werden, um die Energieeffizienz zu steigern. Dafür bekommt jedes Haus künftig ein Smart Meter, aber das dau- ert noch. Im Anschluss werden in der dritten Phase die Speichermöglichkei- ten aufgebaut, damit die Energiewen- de in der letzten Phase mit der kom- pletten Umstellung auf erneuerbare Energien vollendet werden kann. Hiltenkamp: Eine große Herausfor de- rung ist es nach wie vor, dass die Ener- gieversorgung künftig umweltfreund- lich, aber eben auch sicher und wirt- schaftlich sein muss. Anders als die konventionellen Energien stehen bei- spielsweise Sonne und Wind, als der- zeit wichtigste erneuerbare Energien, nur schwankend zur Verfügung. Dane- ben muss die Politik Anreize schaffen, um auf CO2-arme Träger umzusteigen. Dazu trägt beispielsweise die neu ein- geführte CO2-Abgabe bei, denn das schädliche Gas ist eine Ursache der Klimaerwärmung. Durch die Kohleverbrennung wird bisher sehr viel CO2 freigesetzt. Auf Emp fehlung der sogenannten Kohle- kommission hat die Bundesregierung deshalb unter anderem den Kohleaus- stieg bis 2038 beschlossen. Wie ord- nen Sie die Weichenstellungen ein? Wehrspohn: Ich bewerte sie als positi- ves Signal. Wir haben für Deutschland einen gesamtgesellschaftlichen Kom- promiss erzielt, der jetzt zu 90 Prozent umgesetzt ist. Dabei haben wir all jene 11 E N E R G I E W E N D E

Erneuerbare Energien EnviaM kann laut eigener Aussage über 100 Prozent des Energiebedarfs seiner Netzkundschaft schon heute aus erneuerbaren Energien decken. Haben Sie die Energiewende schon geschafft? Hiltenkamp: Im Sommer, wenn wir viel Strom aus erneuerbaren Energien her- stellen können, decken wir rein rech- nerisch schon jetzt mehr als 100 Pro- zent des Bedarfs ab. Damit haben wir die Ziele für 2050 bereits heute er- reicht. Das Problem ist aber, dass zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten beispielsweise Sonne nicht ausrei- chend zur Verfügung steht, wie eben nachts oder im Winter und Frühjahr. Die Versorgung kann in diesen Zeiten heute nur durch einen Energiemix gesichert werden, der auch aus fossi- len Rohstof fen besteht. Die Energie- wende ist aber nicht nur eine Strom- wende, sondern auch eine Wärme- und Verkehrswen de. Im Wärme- und Verkehrssektor ist der Anteil der er- neuerbaren Energien im Vergleich zum Stromsektor sehr gering. Wir ha- ben folglich noch viel zu tun. Tatsächlich entfällt der größte Teil der hierzulande verbrauchten Energie auf Wärme. Warum stagniert der An- teil regenerativ erzeugter Wärme seit Jahren auf niedrigem Niveau? Bucher: Das Bewusstsein dafür muss erst einmal wachsen. Die Forschungs- programme der Bundesregierung setz- ten in erster Linie auf Photovoltaik und Windkraft zur Stromerzeugung. Technologien zur Wärmeerzeugung wurden bisher wenig bis gar nicht gefördert. Dabei steckt hier enormes Potenzial. Beispielsweise kann die Wärme, die in der Erdkruste gespei- E N E R G I E W E N D E „Geothermische Nutzungen haben den großen Vorteil, dass sie grundlastfähig sind, also immer zur Verfügung stehen“ Prof. Anke Bucher, Fakultät Ingenieur- wissenschaften der HTWK Leipzig chert ist, zum Heizen, Kühlen oder zur Stromerzeugung genutzt werden. Sol- che geothermischen Nutzungen haben den großen Vorteil, dass sie grundlast- fähig sind, also immer zur Verfügung stehen. Glücklicherweise hat sich in den letzten Jahren dahingehend et- was geändert, sodass zumindest mehr Geld in die Erforschung von Technolo- gien zur regenerativen Wärmeerzeu- gung investiert wird. Trotzdem ist hier noch viel Luft nach oben. Leipzig baut gerade sein Fernwärme- netz mit einem neuen Erdgaskraft- werk weiter aus. Wie passt das zur Energiewende? Bucher: Die Entscheidung für ein Gaskraftwerk ist sicher eine betriebs- wirtschaftliche und als Übergangs- lösung zu betrachten, denn momen- tan gibt es für Leipzig noch keine auf regenerativen Energien beruhende Einzeltechnologie. Mittelfristig sollte 13

6,5 Cent pro Kilowattstunde zahlen Stromkundinnen und -kunden 2021 für die EEG-Umlage Erneuerbare Energien Wie gehen Sie in Ihrem persönlichen Umfeld mit der Energiewende um? Bucher: In meiner Mietwohnung be- ziehe ich Ökostrom. Darüber hinaus nutze ich regelmäßig den öffentlichen Nahverkehr oder mein Fahrrad. Ein eigenes Auto besitze ich seit Jahren nicht mehr. Wenn ich eins benötige, nehme ich Carsharing-Angebote wahr oder fahre bei weiten Reisen mit dem Zug. Wehrspohn: Auf grünen Strom setze ich ebenfalls, zu Hause in Halle und in meinem Ferienhaus an der Nord- see. Seit anderthalb Jahren fahre ich außerdem ein Wasserstoffauto. Der Treibstoff hält lange. Als „Wasser- stoff-Pionier“ kann ich anderen auch Ängste vor der neuen Technologie nehmen. Hiltenkamp: Ich bin da durchaus ambivalent. Ein Elektroauto kaufe ich mir noch nicht, weil ich bislang Unzulänglichkeiten in der Techno- logie sehe. Auf dem Dach meines Hauses habe ich hingegen eine Solar- thermieanlage mit Photovoltaik. Diese erzeugt Strom und erhitzt Wasser. Um den Strom auch später abrufen zu kön- nen, habe ich nachträglich noch einen Speicher einbauen lassen. — rs/frb E N E R G I E W E N D E künftige Kopplung des Stromsektors mit dem Wärme- und Verkehrssektor sind wir auf Daten und eine funktio- nierende Infrastruktur angewiesen. Deshalb investieren wir in die Digi- talisierung unserer Stromnetze und darauf aufbauender Produkte und Dienstleistungen sowie gleichzeitig in den Glasfaserausbau unseres Tele- kommunikationsnetzes. Wir denken also parallel in mehrere Technologie- richtungen. Immer weiter steigende Strompreise, Heiz- und Modernisierungskosten sind in der Bevölkerung unbeliebt. Wie kann es für Endverbraucher- innen und Endverbraucher bezahlbar bleiben? Hiltenkamp: Zu einer Entlastung kommt es durch die Senkung der EEG- Umlage, mit der die Stromerzeu gung aus erneuerbaren Energien finanziell gefördert wurde. Aus unse rer Sicht ist die EEG-Umlage aber noch zu hoch. Gut finde ich statt dessen die 2021 ein- geführte CO2-Ab gabe. Dadurch wird zwar vor allem Gas teurer, aber sie ist ein Anreiz, CO2-Emissionen zu ver- meiden. Aus Sicht der Stromverbrau- cherinnen und -verbraucher wäre die verstärkte Einführung zeitvariabler Netztarife wünschens wert. Indem sie vorwiegend Strom konsumieren, wenn gerade viel aus erneuerbaren Energien hergestellt werden kann, würden sie ihre Stromkosten senken, das Klima schützen und das Stromnetz stabil halten. Sonne und Wind stehen nicht im- mer zur Verfügung, der Ausbau von Wind- und Solarparks ist umstritten. Warum ist es trotzdem richtig, dass sich die Industrienation Deutschland aus der fossilen Energieversorgung verabschiedet? Bucher: Wenn ich an die letzten Jahre denke, an die milden Winter und die heißen Sommer, die Trockenheit und die dadurch sinkenden Grundwasser- spiegel, dann ist klar, dass sich etwas ändern muss. Wir müssen verantwor- tungsvoll mit der uns anvertrauten Natur und den vorhandenen Ressour- cen umgehen. Für Deutschland als In- dustrienation sehe ich hier eine große Chance, ganz neue Geschäftsfelder zu eröffnen und damit auch Vorbild für andere Staaten zu sein. Hiltenkamp: Wir können die Klima- schutzziele nur erreichen, wenn wir die erneuerbaren Energien weiter ausbauen und aus der Kohle ausstei- gen. Wir haben genug Wissen, um die Ener giewende und die CO2-Befreiung zu stemmen. Wehrspohn: Das Ziel bis 2050 ist allen klar. Ob wir dabei auf Wind, Sonne, Biogas oder Ähnliches setzen, ist of- fen. Die Forschung kann für die Zu- kunft nachhaltige Technologien ent- wickeln. Beispielsweise untersucht die HTWK Leipzig im Verbund mit Hypos, welche Transport- und Spei- chermöglichkeiten Wasserstoff für er- neuerbare Energien bietet. 15

Solartechnik Wie Phönix aus der Asche Text: Dr. Rebecca Schweier Die deutsche Solarindustrie hat wechselhafte Zeiten hinter sich. Viele Hersteller der ersten Stunde sind heute insolvent. Doch mittlerweile gibt es eine neue Generation an Start-ups, die in enger Kooperation mit Forschungseinrichtungen wie der HTWK Leipzig neue Geschäftsmodelle vorantreibt. E N E R G I E W E N D E 17

diese vergleichen zu können. Sie ent- spricht etwa der Helligkeit eines kla- ren, sonnigen Sommertags in Deutsch- land“, erklärt Dr. Torsten Brammer, Geschäftsführer von Wavelabs. Der so ermittelte Wirkungsgrad entscheidet maßgeblich über den erzielbaren Ver- kaufspreis der Solarzelle. Sonnensimulatoren Herkömmliche nutzen als Leuchtmittel eine Xenon- lampe. Weil die Farbtemperatur dem Tageslicht recht nahe kommt, wird dieser Lampentyp beispielsweise auch in Fotoblitzanlagen verwendet. Doch was für die Fotografie ausreicht, ist für die Vermessung von Solar- zellen ziemlich ungenau. Das Licht- spektrum weicht in seiner Verteilung bis zu 25 Prozent von der definierten Norm eines klaren, sonnigen Tages ab. Diese Abweichung reduziert die Genauigkeit der Wirkungsgradbestim- mung einer Solarzelle. Die Simulato- ren von Wavelabs hingegen nutzen 21 verschiedenfarbige LEDs, um das Sonnenlicht möglichst genau über das gesamte Spektrum nachzubilden. „Wir erreichen damit eine Norm- abweichung von nur fünf Prozent“, so Brammer. Für Solarzellenhersteller bedeutet das: Sie können Käuferinnen und Käufern von Solaranlagen genau- er vorhersagen, wie viel Solarstrom sie produzieren werden. Ziel: Sonnenlicht mit LEDs imitieren Doch ein Problem tritt sowohl bei Xenonlampen als auch bei LEDs auf: Das Lichtspektrum verändert sich in Abhängigkeit der Temperatur. Grob gesagt: Je wärmer die Lampe, desto rötlicher das Licht. In einer moder- nen Solarfabrik wird der Sonnen- simulator mehrmals pro Sekunde Solartechnik ein- und ausgeschaltet; Temperatur und Lichtspektrum verändern sich permanent. Wie eine temperaturab- hängige, unmittelbare Nachregelung des Lichtspektrums möglich ist, hat ein Wissenschaftlerteam der HTWK Leipzig zusammen mit Wavelabs und dem Fraunhofer-Institut für Silizium- Photovoltaik in Halle drei Jahre lang erforscht. (Fraunhofer CSP) Das Zustandekommen des Projekts ist maßgeblich Jens Schneider zu ver- danken. Als Doktorand lernte er auf der Weltsolarkonferenz 2003 Torsten Brammer kennen, der auf einem ähnlichen Gebiet forschte. Kurze Zeit später zogen beide nach Bitter- feld. Schneider wurde Forschungs- ingenieur beim Solarmodulhersteller CSG Solar, Torsten Brammer fing bei Mit Sonnensimulatoren lässt sich der Wirkungsgrad von Solarzellen ermitteln. Das ist gerade für Käuferinnen und Käufer von Solaranlagen interessant – war bislang aber ungenau E N E R G I E W E N D E 19

Solartechnik im späteren Lebenszyklus Lötstellen brechen oder andere technische De- fekte entstehen.“ Laut einer Studie des Bayerischen Zentrums für Ange- wandte Energieforschung von 2017 betrifft das rund sechs Prozent der in Deutschland installierten Anlagen. Um solche technischen Defekte zu er- kennen, haben drei Wissenschaftler des Fraunhofer CSP sich 2018 mit dem Start-up Denkweit selbstständig ge- macht. Sie entwickeln Messgeräte, die elektrische Ströme in Solarzellen und Batterien anhand ihres Magnetfelds erkennen und visualisieren. Die Idee dahinter: Jedes stromdurchflossene Bauteil, also auch ein Solarmodul, er- zeugt ein eigenes Magnetfeld. Verän- dert sich der Stromfluss, ändert sich zugleich das Magnetfeld. In einem gemeinsamen Forschungs- projekt entwickelt die HTWK Leipzig zusammen mit Denkweit und vier wei- teren Partnern seit Juli 2019 das Mess- verfahren weiter. „Damit der Sensor des Messgeräts erkennt, um was für einen Fehler es sich handelt, simu- lieren wir an der HTWK Leipzig ver- schiedene Fehlerszenarien am Com- puter. Aus dem Vergleich mit den se- lektiven Signalen des Sensors können wir Rückschlüsse auf die direkte Feh- lerquelle ziehen“, sagt Schönfelder. Mit den von der HTWK Leipzig bereit- gestellten Daten konnte Denkweit den Sensor bereits auf seine Genauigkeit testen. Im Sommer 2020 folgte der erste Feld- test in Solarparks. „Die vielen neuen Messdaten helfen, die Simulations- modelle weiterzuentwickeln und die Fehlermechanismen besser zu ver- stehen“, sagt Dr. Kai Kaufmann, ope- rativer Geschäftsführer von Denkweit. „Damit unterstützen wir die Verbes- serung des Messverfahrens“, ergänzt Schönfelder. Im Forschungsprojekt 21 E N E R G I E W E N D E Prof. Dr. Mathias Rudolph (*1968) ist seit 2013 Professor für Industrielle Messtechnik an der HTWK Leipzig. Bereits zuvor befasste sich der promovierte Elektrotechnik-Ingenieur von 2006 bis 2013 bei Siemens in Erlangen mit der Simulation und Energie- effizienz von Werkzeugmaschinen. 22 m2 Dachfläche decken den Strombedarf eines durchschnittlichen Vier-Per- sonen-Haushalts in Deutschland Fehler analysieren Zwischen dem in der Fabrik unter Laborbedingungen gemessenen Wir- kungsgrad und der tatsächlich erziel- ten Strommenge auf einem Hausdach oder im Solarpark können sich er- hebliche Abweichungen ergeben. Die Gründe hierfür sind vielfältig, erklärt Stephan Schönfelder, Professor für Simulation energetischer und techni- scher Systeme an der HTWK Leipzig: „Zuallererst scheint die Sonne eben nicht immer so kräftig wie an einem klaren Sommertag. Außerdem kön- nen Staub und grobe Verschmutzun- gen die Leistung der Solarmodule be- einträchtigen. Aber es passiert eben auch, dass in der Verarbeitung von So- larzellen zu Solarmodulen oder durch Belastungen wie Wind und Schnee

2 % der Fläche Deutschlands würden bedeckt mit Solarmodulen ausrei- chen, um den deutschen Gesamt- strombedarf zu decken Solartechnik zwischen Wissenschaft und Praxis hierzulande sorgen nun für einen neuen Aufschwung von Unterneh- men. Ihre wissensintensiven Tech- nologien exportieren sie in die ganze Welt und lassen so die Solarindustrie wie Phönix aus der Asche neu auf- erstehen. Damit leisten sie einen Bei- trag zur Eindämmung des Klimawan- dels und zur Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. — Prof. Dr. Stephan Schönfelder (*1980) ist seit 2014 Professor für Simulation energetischer und technischer Systeme an der HTWK Leipzig. Zuvor forschte der pro- movierte Maschinenbau-Ingenieur zehn Jahre lang am Fraunhofer CSP und Fraunhofer IMWS in Halle zur mechanischen Zuverlässigkeit von Produkten der Silizium-Photovol- taik und Halbleiterindustrie. soll der Sensor mit einem Reinigungs- roboter für Solarmodule verknüpft werden. Während der Roboter die Module reinigt, soll der Sensor paral- lel erkennen, ob das Modul noch ord- nungsgemäß funktioniert. Der Sensor kann aber auch in einem Handgerät oder Prüfroboter verbaut werden, sodass das Messgerät an möglichst vielen verschiedenen Solaranlagen eingesetzt werden kann. Im Gegen- satz zu bisherigen Prüfmöglichkeiten kann mit dem neuen System direkt an der Anlage die Funktionalität ge- testet werden – ohne Module abzu- bauen und ohne den Anlagenbetrieb zu unterbrechen. Bis Februar 2022 soll das Forschungsprojekt abgeschlossen werden. Der Reinigungsroboter mit integriertem Messsensor soll dann auf den Markt kommen. Aufschwung dank Forschung Die Forschungsexpertise der HTWK Leipzig im Bereich Photovoltaik ist mittlerweile auch über die Grenzen Mitteldeutschlands hinaus bekannt. So kooperiert Stephan Schönfelder in einem weiteren Projekt mit dem Frei- burger Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme und süddeutschen Sondermaschinenherstellern, die Pro- duktionsequipment für Solarzellenfa- briken auf der ganzen Welt anbieten. Und auch Mathias Rudolph forscht gemeinsam mit einem bayerischen Sondermaschinenhersteller, der auf den Bau von Solarparks in Wüstenre- gionen spezialisiert ist. Fazit: In Deutschland werden zwar fast keine Solarzellen mehr hergestellt. Doch das Fachwissen, die jahrelange Erfahrung und die gute Vernetzung 23

Stromnetz für die Zukunft Text: Dr. Franziska Böhl und Dr. Rebecca Schweier Der Umstieg auf erneuerbare Energien und der gleich- zeitig wachsende Energiebedarf stellen unser Stromnetz vor viele Herausforderungen. Vor allem muss es leis- tungsfähiger, flexibler und intelligenter werden, ohne dabei an Ausfallsicherheit einzubüßen. Auf dem Weg zu einem solchen „Smart Grid“ sind viele Hürden zu bewäl- tigen. HTWK-Professor Faouzi Derbel arbeitet daran. Smart Grids E N E R G I E W E N D E 25

Smart Grids automatisch die durchgeleitete Strom- menge anpassen können. Damit die Messeinrichtung autark funktioniert, soll sie ihre benötigte Energie für den Betrieb eigenständig aus den Ableit- strömen an den Strommasten gewin- nen. Bis Mitte 2022 soll der Sensor fertig sein. Herausforderungen im Mittelspannungsnetz Das Zapdos-Messsystem ist vor allem für das Höchst- und Hochspannungs- netz gedacht. Diese Leitungen trans- portieren Strom über große Distanzen bei mehreren hunderttausend Volt. Nur in diesem „Transportnetz“ stehen den Netzbetreibern derzeit Informa- tionen zur Verfügung, wie viel Energie an welcher Stelle eingespeist wird – und nur hier kann die Stromübertra- gungsmenge direkt gesteuert werden. Für die regionale und lokale Weiter- verteilung wird die Energie in Netze mit mittlerer und niedriger Spannung übertragen. Auch dieses „Verteilnetz“ muss dringend um- und ausgebaut werden. Vielerorts passiert das schon: Mittelspannungsfreileitungen werden zunehmend durch Erdkabel ersetzt. Bei der Bevölkerung finden die unter- irdischen und damit unsichtbaren Ka- bel mehr Akzeptanz, zugleich sind sie besser vor umfallenden Bäumen und anderen Beschädigungen geschützt. Außerdem wird immer mehr Ener- gie von dezentral verteilten Windrä- dern, Biomassekraftwerken und Solar- anlagen direkt ins Mittelspannungs- Prof. Faouzi Derbel zeigt, wie die Messeinrichtung mittels intelligenter Bildverarbeitung den maximalen Durchhang von Stromleitungen erkennen soll netz eingespeist. Damit fließt Strom nicht mehr nur von wenigen großen Kraftwerken über Hoch-, Mittel- und Niederspannungsnetze zu vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern auch in entgegengesetzter Richtung übers Mittelspannungs- ins Hochspannungsnetz. Die Netzbelas- tung nimmt zu. Blackouts verhindern „Was Stromausfälle angeht, gehört unser Netz zu den sichersten in ganz Europa. Das liegt auch an einer be- sonders ausgeprägten Fehlertoleranz in unseren Mittelspannungsnetzen. Grob gesagt, könnten die Netze auch dann weiterbetrieben werden, wenn ein Erdschluss, also ein Kurzschluss der Stromleitung mit der Erde, vor- läge – solange der Fehlerstrom eine bestimmte Stärke nicht überschrei- tet“, erklärt Kai Bartholomäus, wis- senschaftlicher Mitarbeiter in Derbels Forschungsgruppe. Je größer ein Netz und je größer der Anteil an Erdkabeln, desto höher der mögliche Fehler- strom. Für seine Berechnung werden mathematische Modelle verwendet. Doch je mehr dezentrale Energie- erzeugerinnen und -erzeuger Strom ins Mittelspannungsnetz einspeisen, desto ungenauer sind diese Modelle. Ursache sind Oberschwingungen, die erneuerbare Energien im Stromnetz verursachen und die bei der üblichen Berechnungsmethode nicht berück- sichtigt werden. 27

12 Minuten fiel 2019 der Strom in Deutschland durchschnittlich aus zunächst für Kundinnen und Kunden mit einem Energieverbrauch ab 6.000 Kilowattstunden pro Jahr und für jene, die eigene Solaranlagen betreiben. „Die Kommunikationsinfrastruktur und die Menge der anfallenden Daten bereiten derzeit die größten Probleme. Aktuell erhalten wir alle 15 Minuten Daten zum Verbrauch von den End- kundinnen und Endkunden, wodurch bereits jetzt riesige Datenmengen ent- stehen. Daten sollen aber künftig in Echtzeit geliefert werden“, sagt Der- bel. Zusammen mit seinem Team er- forscht er deshalb, wie die Daten aufs Wesentliche reduziert werden kön- nen, um dann per Funk an die Netzbe- treiber weitergeleitet zu werden. Bis auch der kleinste Haushalt mit elek- trischen Messeinrichtungen ausge- stattet ist, dauert es laut Bundeswirt- schaftsministerium noch elf Jahre. Bis dahin arbeiten Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler gemeinsam mit den Energieunternehmen daran, möglichst viele Informationen aus den bereits verfügbaren Daten her- auszuholen und das Netz Schritt für Schritt und auf allen Netzebenen zu einem „Smart Grid“, einem intelli- genten Netz, umzubauen. Denn noch Jahrzehnte auf die Energiewende war- ten, dazu lässt uns das Tempo des Kli- mawandels keine Zeit. — Smart Grids E N E R G I E W E N D E 29 Prof. Dr. Faouzi Derbel (*1970) ist seit 2013 Professor für Monitoring und Diagnostik in der elektrischen Energietechnik an der HTWK Leipzig. Nach dem Elektro- technik-Studium und anschließen- der Promotion in München arbeitete der gebürtige Tunesier viele Jahre in der Industrie. So war er unter anderem Entwicklungsleiter von Sub- und Smart-Meter-Lösungen bei Siemens. Seit Juli 2020 vertritt Derbel Deutschland in der Arbeits- gruppe „Smart Cities“ innerhalb der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC). Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Länder erarbeitet er hier ein Referenzarchitekturmodell für Smart Cities.

Grüner Wasserstoff Kleines Molekül mit großem Potenzial E N E R G I E W E N D E Text: Dr. Franziska Böhl Wasserstoff ist ein wichtiger Baustein der Energie- wende, weil er regenerativ erzeugte Energie zwi- schenspeichern kann. Wie er gefahrlos zu Endkun- dinnen und Endkunden transportiert werden kann, demonstriert die HTWK Leipzig mit Partnerinnen und Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft im Wasserstoffdorf in Bitterfeld-Wolfen.  Wasserstoff ist ein flüchtiger, geruchloser und leicht entzündlicher Energieträger 31

Grüner Wasserstoff E N E R G I E W E N D E Das Gelände des Wasserstoffdorfs ist etwa 12.000 Quadratmeter groß. Die grauen Metallabdeckungen führen zu Schächten, von denen aus das unterirdisch verlaufende Verteilnetz sichtbar wird versorgung, Chemie, Raffinerie und Mobilität erforscht. In Mittel- und Ostdeutschland entstand so in den letzten Jahren eine Modellregion für eine grüne Wasserstoffwirtschaft, die Initiative „Zwanzig20 – Partnerschaft für Inno- vation“ vom Bundesforschungsminis- terium mit insgesamt über 45 Millio- nen Euro gefördert wird. im Rahmen der „H2-Netz“-Projekt testet die Im Mitteldeutsche Netzgesellschaft Gas (Mitnetz Gas) gemeinsam mit den Partnern, der HTWK Leipzig, dem Forschungsunternehmen DBI Gas- und Umwelttechnik, dem Kunststoff- hersteller Rehau und dem Tüv Süd, wie Wasserstoff unter realen Bedin- gungen verteilt werden kann und ob dazu bereits bestehende Systeme ge- nutzt werden können. „Dafür unter- suchen wir, wie die Verteilung öko- nomisch und ökologisch nachhaltig gelingt und welche Materialien für die Infrastruktur geeignet sind“, er- klärt Robert Huhn, der an der HTWK Leipzig das Projekt H2-Netz leitet. Das Versuchsgelände ist deshalb als eige- nes, kleines Verteilnetz von der Gas- pipeline bis zu Endverbraucherinnen und Endverbrauchern aufgebaut. „Grüner Wasserstoff könnte dazu beitragen, die Strom- und Wärmeversorgung künftig bei weiterhin hoher Versorgungssicherheit klimaneutraler, umweltfreundlicher und langfristig kostengünstiger zu gestalten“ Robert Huhn, Professor für Gas- und Wärmenetze 33

24 Milliarden Kubikmeter Gas können in 47 deutschen Untertage-Gasspeichern gelagert werden – rund ein Viertel der 2020 verbrauchten Menge Grüner Wasserstoff Ingenieur arbeitete bis 2019 an der HTWK Leipzig und hat das prototy- pische Verteilnetz für Wasserstoff von Anfang an mitentwickelt. Seit Januar 2020 ist er Projektkoordinator des H2- Netz-Projekts beim DBI. Er erklärt: „Kunststoffrohre sind auf einer Rohr- brücke so noch gar nicht erlaubt, weil es bislang keine Zulassungen gibt.“ Kunststoff dehnt sich ähnlich wie Metall bei Wärme aus. Deshalb lie- gen die Leitungen auf Schienen, auf denen sie sich verschieben können. Da mit steigender Oberflächentempe- ratur der Rohre auch die Festigkeit des Materials nachlässt, muss wiederum der Druck angepasst werden. Im Som- mer strömt der Wasserstoff deshalb mit 11 Bar und im Winter mit 13 Bar durch die Leitungen. Eine PE-Schaum- stoff-Schicht schützt die Rohre vor der Sonneneinstrahlung. Für den Gastransport werden verschiedene Materialien getestet 35 Sind Kunststoffrohre geeignet? Zwischen Gasdruckregelanlage und Info-Pavillon fließt der Wasserstoff durch ein 1,4 Kilometer langes System aus Rohren. Diese bestehen aus ver- schiedenen Materialien, vorwiegend aus Kunststoff, aber auch aus Stahl. In der Industrie wird Wasserstoff bis- lang ausschließlich in Stahlrohren transportiert; Erdgas wird hingegen schon über Kunststoffleitungen ver- teilt. Doch Stahl wird spröde, weil sich bei der sogenannten Wasserstoffver- sprödung kleine H2-Atome im Metall- gitter der Stahllegierung einlagern, wodurch diese aufbrechen, undicht werden und reißen können. Bei Kunst- stoffrohren passiert das nicht. Mit den bekannten Kunststoffartikeln aus dem Haushalt sind sie nicht vergleichbar, denn die bestehen aus anderen Kunst- stoffen und werden beispielsweise durch UV-Strahlung spröde. „Die im Forschungsprojekt verwendeten Kunststoffrohre sind zudem in ihrer Herstellung CO2-ärmer als Stahl. Auch können sie mit modernen, graben- losen Verfahren deutlich schneller und umweltfreundlicher verlegt wer- den“, erklärt Robin Pischko, Projekt- mitarbeiter an der HTWK Leipzig. Sollte sich zeigen, dass Wasserstoff mit denselben Materialien wie für Erdgasleitungen transportiert werden kann, könnten Energieunternehmen auf die bestehende Gasinfrastruktur aufbauen. Das würde die Umstellung auf Wasserstoff deutlich attraktiver machen. Doch aufgrund der besonderen Eigen- schaften des Wasserstoffs müssen die Forschenden prüfen, ob die Bauteile auch für den Einsatz von reinem Was- serstoff geeignet sind. Zur Erklärung führt Christopher Knorr vom DBI die Besuchsgruppe zur Rohrbrücke. Der

brannt wird. In der Gasbranche ist das bisher nicht üblich. Erdgas wird bei kleinen Entleerungsmengen direkt in die Atmosphäre abgelassen. Mit Was- serstoff wäre das aber gefährlich. Um eine Explosion auszulösen, bedarf es gerade einmal der elektrostatischen Aufladung von Kleidung oder mecha- nischer Funken durch die Reibung eines Rost- oder Metallteilchens in einem der Rohre. „Es ist deshalb ver- boten, Wasserstoff unverbrannt in die Atmosphäre strömen zu lassen“, be- tont Jürg Ziegenbalg. Forschung für den Praxiseinsatz Die Besucherinnen und Besucher sind damit an jenem Tag am Ende ihres Rundgangs angekommen. Obwohl oberflächlich kaum etwas zu sehen war, dauerte die Besichtigung des Was- serstoffdorfs fast zwei Stunden, denn unter der Erde schlummert enormes Potenzial. Laut aktuellen Zwischen- ergebnissen kann Wasserstoff effi- zient und sicher verteilt und die be- stehende Gasnetzinfrastruktur zum großen Teil genutzt werden. Grüne Gase wie Wasserstoff werden deshalb beim Ausstieg aus der Kernenergie und der Kohle zu einem bedeutenden Energieträger im Energiesystem der Zukunft. „Deshalb ist es wichtig, durch angewandte Forschung und Reallabo- re die Technologien zur Erzeugung, Verteilung, Speicherung und Anwen- dung von Wasserstoff weiterzuentwi- ckeln und damit marktreif zu machen. Das hilft bei der flächendeckenden Einführung der Wasserstofftechno- logien und damit auch beim schritt- weisen Ausstieg aus den fossilen Ener- giequellen“, erklärt HTWK-Professor Robert Huhn abschließend. Durch die aktuelle Wasserstoffstrategie der Bundesregierung komme hierbei end- lich mehr Schwung in den Transfor- mationsprozess. — E N E R G I E W E N D E Prof. Dr. Robert Huhn (*1974) ist seit 2019 Professor für Gas- und Wärmenetze an der Fakultät Ingenieurwissenschaften der HTWK Leipzig. Der promovierte Maschinenbau-Ingenieur befasst sich mit Gasversorgungstechnik und Gasanwendung in Industrie, Gewerbe und Haushalten sowie mit der Verteilung von thermischer Energie in Wärmenetzen. Wasser- stoffanwendungen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Seit 2020 leitet er an der HTWK Leipzig das Forschungsprojekt H2-Netz. Robin Pischko (*1995) ist seit 2020 wissenschaft- licher Mitarbeiter an der Fakultät Ingenieurwissenschaften der HTWK Leipzig. Zuvor studierte er von 2014 bis 2019 Energie-, Gebäude- und Umwelttechnik an der HTWK Leipzig. Für das Projekt H2-Netz wertet er Messdaten aus, doku- mentiert Versuche und erforscht ökologische und ökonomische Aspekte der Wasserstoffinfra- struktur. 37

Geotechnik Kern der Bodenversuchsanlage ist ein in der Tiefe eingebauter Sandkörper. Die Teams von G² Gruppe Geotechnik und Geonetic vor Ort auf dem Freigelände des HTWK-Forschungszentrums. Im Bild (v. l.): Jochen Holdt, Enrico Wendt, Bénédict Löwe, Finia Knauf, Dr. Friedemann Sandig, Sophie Bachmann und Lukas Wasner Ohne einen tragfähigen Untergrund würden sich Bauwerke absenken, ver- formen oder gar zusammenbrechen. Der Baugrund selbst jedoch ist kom- plex: Er besteht nicht aus einer star- ren, monolithischen Struktur wie Stahl oder Beton. Böden setzen sich vielmehr aus einzelnen Körnern zusammen, die sich gegeneinander verschieben lassen. Zwischen diesen befindet sich ein drei- dimensionaler Porenraum, der mit Luft und Wasser gefüllt ist. Bei einem locke- ren Boden ist dieser Porenraum groß. Bodenkörner können sich dann leicht bewegen. Was für Pflanzen, die hier ihre Wurzeln ausbreiten, wichtig ist, ist im Bauwesen hingegen ein Problem, denn durch die Lasten von Gebäuden oder Brücken können große Verformungen entstehen. Durch eine Verdichtung des Bodens, beispielsweise mit einer Walze, wird der Porenraum kleiner; die Körner liegen dann dicht aneinander, verzahnen sich miteinander und erzeugen so die nötige Stabilität. Die Bodenverdichtung ist im Bauwesen eine gängige Methode, um den Baugrund zu verbessern. Und sie stellt eine nachhaltige Lösung dar, denn der Baugrund wird nicht dauerhaft ver- ändert. Um das Verhalten von Böden beurtei- len zu können, werden an der HTWK Leipzig mehrere Forschungsversuchs- stände betrieben: Der bislang größte ist die Bodenversuchsanlage, die durch die 39

Geotechnik Um reproduzierbare Ergebnisse bei den Forschungsarbeiten zu erzielen, muss der in den Versuchsraum ein- gebaute Sandkörper exakten Vorgaben entsprechen, die sich aus numerischen Untersuchungen und bodenmechani- schen Laborwerten ableiten. Am Ende steht so ein 200 Kubikmeter großer Experimentierraum für die Forschung zur Verfügung. Bauen im Dienst der Wissenschaft: Schritt für Schritt, in acht einzelnen Lagen wurde der Sand in die 2,5 Meter tiefe Grube eingebaut und dabei akribisch die vorgegebene Einbau-Dichte geprüft F O T O R E P O R T A G E 41

An der Geländeoberfläche erfasst ein Netzwerk aus Sensorknoten kleinste Änderungen des seismischen Wellenspektrums. Diese Änderungen geben Hinweise auf unterschiedliche Dichten im Untergrund Mit speziellen, an der HTWK Leipzig entwickelten Sensoren, welche netzförmig die Geländeoberfläche überziehen, werden seismische Wellensignale des Bodens erfasst. Aus der Datenanalyse lassen sich Bodeneigenschaften und die Tiefenlage von Schichtgrenzen ableiten. Im Ergebnis entsteht so ein dreidimensionales Abbild des gesamten Untergrundes. Geotechnik F O T O R E P O R T A G E 43

Geotechnik Herausforderungen und Anreize für die Geotechnik liegen di- rekt vor der Haustür. Hier lagern riesige Bodenmassen aus dem Braunkohleabbau der letzten Jahrzehnte in den heute stark veränderten Landschaften. Um diese im Zuge des Kohleausstiegs und des damit verbundenen Strukturwandels in natürliche und sichere Lebensräume zu verwandeln, müssen Bodenzustände erfasst und wirtschaftliche Methoden zur Bodenstabilisierung erforscht werden. Mit ihren Untersuchungen zu räumlichen und zeitlichen Verdichtungseffekten sowie der Entwicklung neuer Messverfahren trägt die HTWK Leipzig hierzu bei. F O T O R E P O R T A G E 45 Kippenfelder im Tagebau

Gründungsberatung Hilfe beim Durchstarten Texte: Stephanie Börner In der Hochschule rauchen die Köpfe. Ob beim Lernen, Forschen oder Lehren – immer wieder entfalten sich neue Gedanken und innovative Ideen. Um diese erfolg- reich in die Praxis umzusetzen, ist unternehmerisches Wissen gefragt. Helfen kann „Startbahn 13“, die Grün- dungsberatung der HTWK Leipzig. S O N D E R T E I L 47

Betriebswirtin mit Spezialisierung auf Marketing und Personalwesen, ist nun verantwortlich für Marketing und Event- management. Und Yvonne Hahn, stu- dierte Gesundheitsmanagerin und Be- triebswirtin, nutzt ihre Erfahrungen als Mitgründerin der Ingenieurgesellschaft IexB, um Gründende in Coachings und Workshops zu unterstützen. „Wir wollen Studierende, Forschende und Lehren- de frühzeitig für die Idee sensibilisieren, dass Gründen ein alternativer Karriere- weg sein kann, der aus der Hochschule hervorgeht. Dafür wollen wir sie quali- fizieren“, sagt Hahn. Startbahn 13 setzt dabei vor allem auf passgenaue Einzel- gespräche. Die Workshops finden normalerweise im Forschungszentrum der Hochschule im Leipziger Osten statt. Während der Covid- 19-Pandemie mussten jedoch Videokon- ferenzen persönliche Treffen ersetzen. In dieser Digitalisierung sieht Börner, die für Startbahn 13 Veranstaltungen organisiert, auch Chancen: „Das hatte auch positive Effekte. Bei den Workshops konnten wir dadurch eine höhere Anzahl an Teilnehmenden verzeichnen, da wir über digitale Tools mehr Interessenten gleichzeitig und ohne örtliche Einschrän- kungen erreichen konnten.“ Erfolgreiche digitale Formate sollen deshalb auch nach der Pandemie Bestand haben. Unterstützen und vernetzen Die HTWK Leipzig unterstützt ihre Grün- dungsberatung auf allen Ebenen. So auch der Prorektor für Forschung Prof. Ralf Thiele. Ihm liegt vor allem der For- schungstransfer am Herzen: „Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- ler forschen an neuen Ideen und Tech- nologien, die zur Lösung konkreter prak- tischer Probleme beitragen. Selbst ein Unternehmen gründen, ist einer der di- rektesten Wege des Transfers von Wissen in die Praxis.“ Zudem begleitet ein Bei- rat aus Mitgliedern der Hochschule, der Im Workshop „Agiles Prozess- und Projektmanagement“ helfen Bausteine beim Entwickeln von Prototypen Stadt Leipzig und der Gründerinitiative Smile der Universität Leipzig Startbahn 13. Auch Investorinnen und gestandene Unternehmer geben Empfehlungen, be- raten bei der strategischen Ausrichtung und helfen beim Ausbau des Netzwerks. Als fachliche Projektbegleiter unter- stützen Prof. Gerold Bausch vor allem bei technischen Fragen und Prof. Oliver Crönertz bei betriebswirtschaftlichen Anliegen das Team von Startbahn 13. Beide können neben ihrer fachlichen Expertise auch eigene Gründungserfah- rungen einbringen. Gründungsbotschaf- terinnen und Gründungsbotschafter, die sich aus der Professorenschaft der ver- schiedenen Fakultäten zusammenset- zen, verbinden darüber hinaus mit ihrem Engagement die Studierenden mit der Gründungsberatung. Auch in der Lehre soll der Gründungs- gedanke weiter integriert werden, um Studierende für dieses Thema zu sen- sibilisieren. Seit drei Semestern gibt es beispielsweise das Modul „Think.Make. Start.“ im Rahmen des Studium genera- le. Es ist für alle Studierenden fakultäts- übergreifend zugänglich, zuletzt sogar digital. Behandelt werden Themen wie Innovation, Tech-Entrepreneurship oder unternehmerisches Denken und Han- deln. Geplant ist außerdem ein hoch- schuleigenes Prototypen-Zentrum mit Kreativraum, Werkstätten und Laboren. Dort können dann innovative Ideen um- gesetzt und Prototypen entworfen wer- den. Es soll noch in diesem Jahr eben- falls in der Eilenburger Straße 13 öffnen. So wird Startbahn 13 seinem Namen ge- recht und hilft Talenten der Hochschule, seien es Studierende, Forschende oder Lehrende, beim „Durchstarten“ einer er- folgreichen Gründung. S O N D E R T E I L Nomen est omen Der Name Startbahn 13 entstand in einem Wettbewerb zur Namensfin- dung, an dem Hochschulangehörige aus dem Netzwerk der Gründungsbe- ratung teilnahmen. Der Begriff Start- bahn verdeutlicht die Aufbruchsstim- mung, mit der eine Gründung an den Start geht. Die „Glückszahl“ 13 steht für die Hausnummer der Eilenburger Straße, dem Sitz des Forschungs- zentrums der HTWK Leipzig und der Gründungsberatung.  s13.htwk-leipzig.de

Zwei der vier Team- mitglieder von RotxBlau: Richard Minkus (links) und Florian Fahr Ökosysteme verstehen S O N D E R T E I L Wie funktionieren Ökosysteme? Das sol- len Menschen aller Altersgruppen spiele- risch erfahren können. Dafür haben sich ein Comiczeichner, ein Programmierer, ein Medien- und Kommunikationswis- senschaftler und ein Ökologe zum Team RotxBlau zusammengetan und gemein- sam die Software Trophix entwickelt. Das Programm simuliert Nahrungsketten in Ökosystemen und ist bewusst einfach konzipiert, damit es in unterschiedlichs- ten Softwareprojekten eingesetzt wer- den kann. Damit nicht nur die Software, sondern auch die Firma ein solides Fun- dament hat, unterstützt Startbahn 13 RotxBlau beim Gründen. Zunächst ist ein finanzieller Puffer wich- tig. Mithilfe ihres Mentors Prof. Mario Hlawitschka, Experte für wissenschaft- liche Visualisierung und Prodekan der Fakultät Informatik und Medien der HTWK Leipzig, und Startbahn 13 erhielt RotxBlau im Juli 2020 die Zusage für ein einjähriges Exist-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Durch diese Förderung können Florian Fahr, Richard Minkus, Alexander Zenker und Michael Zöller ihre Geschäftsidee weiterverfolgen und grün- deten Ende 2020 ihr Unternehmen. Ge- meinsam verbindet sie das Ziel, Software zu entwickeln, die einerseits Spaß macht und andererseits bildet. Wie gut das funktionieren kann, bewie- sen zwei der Gründer, Florian Fahr und Alexander Zenker, bereits mit der App „Be the Whale“, die sie für das Ozeaneum Stralsund erstellten. Die Spielenden schwimmen dabei in der Ich-Perspekti- ve eines Wals durch die Weltmeere und können so die Lebenswelt der Wale er- kunden und etwas über die Gefahren der Unterwasserwelt lernen. Beim Entwer- fen dieser App stellten sich die beiden Entwickler die Frage, was es braucht, um ein realistisches Nahrungsnetz zu si- mulieren. Hieraus entstand die Idee für Trophix. Die Software simuliert ein Nah- rungsnetz in Echtzeit, bei dem Pflanzen, Tiere und die Umwelt definiert werden. Ziel der Software ist es, realistische Öko- systeme abzubilden. Ein Beispiel von Florian Fahr: „Ich kann in einem Spiel tausend Wölfe erschießen und nichts passiert. Aber das entspricht nicht der Realität. Wenn ich aus einem Ökosys- tem so viele Wölfe entferne, würden sich Wildschweine oder Rehe explosionsartig ausbreiten und ein ganzer Wald langsam zusammenbrechen. Wir wollen ein Werk- zeug bereitstellen, mit dem Entwickle- rinnen und Entwickler genau so etwas einbauen können. So können die Spie- lenden eine Idee davon bekommen, wie ein Mensch seine Umwelt beeinflusst.“ So macht Trophix Nahrungsnetze und deren Verletzlichkeit erfahrbar. Das ist vor allem für Bildungsträger interessant, die Umweltsysteme spielerisch vermit- teln wollen. Ihnen bietet RotxBlau die Software an und berät sie beim Einsatz und bei der Entwicklung. Derzeit arbeiten die Spieleentwickler in Coachings mit Startbahn 13 an einem Businessplan. Das nächste Ziel ist klar: Ende 2021 soll die Software Trophix marktreif sein. 51

Kinder, die in Stadtteilen aufwachsen, in denen besonders viele Erwerbslose oder weniger gebildete Menschen wohnen, haben ein höheres Risiko, übergewichtig zu sein. Das fand Dr. Ulrike Igel in ihrer Doktorarbeit heraus. Sie erforschte, welchen Einfluss soziale Ungleichheit und Umweltfaktoren auf das Körpergewicht von Mädchen und Jungen haben und wie Wohngegenden gestaltet werden können, um Überge- wicht vorzubeugen. Dafür zeichnete die Stiftung HTWK sie im Dezember 2020 mit dem Dissertationspreis aus, der mit 3.000 Euro dotiert ist. Für die Auswirkungen der Wohnumge- bung auf die Gesundheit interessierte sich Igel schon früh. „Ich lebte eine Wei- le in einem Stadtteil, in dem ich jeden Morgen an der Bushaltestelle streitende, rauchende, trinkende und perspektivlos wirkende Menschen sah. Ich hatte das Gefühl, diese ‚Depression‘ färbt ab“, so die 39-Jährige, die an der HTWK Leipzig Sozialwesen studierte. Als wissenschaft- liche Mitarbeiterin der Hochschule arbei- tete sie nach ihrem Studium an verschie- denen stadtteilbezogenen Projekten zur Gesundheitsförderung mit. Hüpfspiele als Wegmarkierungen können Kinder zu mehr Bewegung animieren – eine von vielen Anregungen aus Dr. Igels Dissertation Gesundheit Was macht eine gesunde Wohnumgebung aus? Zuletzt gestaltete sie mit Kolleginnen und Kollegen das Forschungsprojekt „Grünau bewegt sich“. Viele Erkenntnis- se aus ihrer Doktorarbeit flossen in das Projekt ein und wurden durch praktische Erfahrungen neu bewertet. „In Koopera- tion mit der Universitätskinderklinik und der Stadt Leipzig entwickelten wir An- sätze, um Stadtteile gesundheitsförder- licher zu machen. So haben wir etwa mit zwei Grundschulen Gestaltungsideen für einen bewegten Schulweg erarbeitet“, so Igel. Der Bedarf ist groß, denn etwa jedes sieb- te Kind in Deutschland ist übergewichtig. Diese Kinder haben häufiger mit Folge- krankheiten wie Diabetes oder Depres- sionen zu kämpfen. Neben der Bildung und dem Einkommen der Eltern spielen die sozialen und baulichen Verhältnisse in der Umgebung eine Rolle für die kindli- che Entwicklung, wie Igel in ihrer Doktor- arbeit herausfand. „Förderlich ist es zum Beispiel, wenn Wohngebiete sicher sind, ein guter Zusammenhalt unter den Be- wohnerinnen und Bewohnern herrscht und es attraktive Grün- und Erholungs- flächen gibt“, sagt Igel. Für ihre Forschung wertete Igel Daten zu Lebensmittelgeschäften in den Leipziger Stadtteilen Neustadt-Neuschönfeld, Grü- nau-Nord und Schleußig sowie der Schul- eingangsuntersuchungen aller Leipziger Schulanfängerinnen und Schulanfänger aus. „Eine meiner Fallstudien zeigte, dass im Vergleich zum ‚privilegierten‘ Stadt- teil Schleußig in sozial benachteiligteren Gebieten der Anteil an Fast-Food-Läden oder Kiosken, die eher ungesundes Essen anbieten, doppelt so hoch war.“ Bisherige Arbeit fortführen Fast acht Jahre forschte Igel zum Zusam- menhang von Wohnumgebungen und Gesundheit an der HTWK Leipzig und der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Ihr kooperatives Promotions- vorhaben wurde unter anderem für drei Jahre mit einem Stipendium des Euro- päischen Sozialfonds gefördert. 2019 verteidigte sie ihre Doktorarbeit „Zur Be- deutung von sozialer Ungleichheit und Umweltfaktoren in der Entstehung und Prävention von Übergewicht und Adipo- sitas im Kindesalter“ mit der Bestnote „summa cum laude“. Igels fast 20-jährige wissenschaftliche Karriere an der HTWK Leipzig nimmt aber nun ein Ende, denn im April 2021 wird sie eine Vertretungs- professur für „Soziale Arbeit im Sozial- raum“ an der Fachhochschule Erfurt antreten. „Damit kann ich gut an meine bisherige Arbeit anknüpfen“, so Igel. – frb S C H L A G L I C H T E R 53

Effizienter produzieren dank digitaler Simulation An der HTWK Leipzig startete im Januar 2020 die interdisziplinäre Nachwuchs- forschungsgruppe SmartKMU. Drei In- genieure, eine Ingenieurin, ein Mathe- matiker und mehrere wissenschaftliche Hilfskräfte entwickeln darin Simulations- werkzeuge für verarbeitende Unter- nehmen. Als Anwendungsbeispiel dient ihnen der für die Verpackungsindustrie wichtige Prägeprozess von Karton. „Mit Papier und Karton haben wir alle tagtäg- lich zu tun – beispielsweise in Form von Lebensmittelverpackungen im Super- markt. Durch Prägung werden Kartons mit Brailleschrift oder haptischen Effek- ten versehen. Ähnliche Resultate las- sen sich zwar auch durch zusätzliche Lack- oder Folienbeschichtungen er- zielen, diese sind allerdings weniger gut recycelbar und somit schlechter für die Umwelt“, erklärt Nachwuchsgruppen- leiter Dr. Florian Wallburg. Wie tief ein Prägestempel eingedrückt werden muss, bestimmen Druck- und Verpackungs- unternehmen bislang, indem sie aus- probieren, was am besten funktioniert. Prägungen sind deshalb aufwendig und teuer. In den kommenden drei Jahren werden die Mitglieder der Nachwuchsfor- schungsgruppe Prägeprozesse in Karton digital nachbilden und soweit verein- fachen, dass die entstehende Software auf einem gewöhnlichen Arbeitsrechner nutzbar ist. Damit können Optimierun- gen und Veränderungen im Prozess künf- tig erst digital simuliert werden, bevor sie in die Produktion gehen. „Durch ihre Faserstruktur sind Papier und Karton ziemlich komplexe Materialien. Wenn es uns gelingt, Umformprozesse bei diesen Materialien zu simulieren, dann können wir die Methoden auch leicht auf andere Materialien und Bearbeitungsprozesse übertragen“, ist der wissenschaftliche Leiter Prof. Stephan Schönfelder über- zeugt. Im Rahmen der Projektlaufzeit möchten die Forschenden ein branchen- übergreifendes Netzwerk für die mate- rialwissenschaftliche Simulation von Fer- tigungsprozessen aufbauen. Nachwuchsgruppen- leiter Dr. Florian Wallburg und Doktorandin Ulrike Käppeler an einer Präge- maschine im Werkstoff- labor der HTWK Leipzig S C H L A G L I C H T E R Innovationen fördern Zur Innovationskraft der Region äußerte sich Sebastian Gemkow, sächsischer Staatsminister für Wissenschaft: „Sachsens Wirt- schaft ist durch viele kleine und mittlere Unternehmen geprägt. Die HTWK Leipzig als technisch orientierte Hochschule leistet einen herausragenden Beitrag zur Qualifizierung von Fachkräften und stärkt zugleich die Inno- vationsfähigkeit der gesamten Region. Zunehmend etabliert sich die Hochschule als kompetente Ansprechpartnerin im Bereich der angewandten Digitalisierung. Ich freue mich, dass der Freistaat mit dem Einsatz von Mitteln des Euro- päischen Sozialfonds innovative Projekte wie SmartKMU ermög- lichen kann.“ 55

Vom starren Theaterraum zur flexiblen Halle Zu Beginn des Projekts erarbeitete das Team erstmals einen Überblick über alle Spielstätten in Deutschland. Dafür werteten die Forscherinnen die Thea- terstatistik, das Bühnenjahrbuch und mehrere Dekaden von Fachzeitschriften aus. Dabei registrierten sie die große Anzahl an Spielstätten mit ihren ver- schiedenen Formen wie Schauspiel, Oper und Ballett und analysierten, wie sich die Theaterbauten im Laufe der Zeit verändert haben. So wurde der Großteil der Aufführungsorte nach dem Zweiten Weltkrieg saniert oder neu gebaut. Seit Ende der 1960er Jahre wurden jedoch kaum noch Theater errichtet. Einerseits waren die meisten Städte inzwischen mit Theatern ausgestattet, andererseits wurden Räume nun anders genutzt. Gerade kleinere und mittlere Städte errichteten Mehrzweckhallen, um dort auch Bildungs- und Sportveranstaltun- gen oder andere Feierlichkeiten durch- führen zu können. „Die Kultur hatte sich in dieser Zeit gewandelt. Massenmedien wie Fernsehen und Kino gewannen an Bedeutung. Auch das zunehmende Interesse am Museumsbau seit den 1970er Jahren drängte Theater zu- rück“, erklärt Menting. Schließlich entwickelte sich seit den 1960er Jahren auch die sogenannte freie Szene. Im Gegensatz zu den etablierten Theatern verfolgte sie un- konventionelle Konzepte, bezog das Publikum in die Aufführungen mit ein und eignete sich neue Räume wie Architekturgeschichte S C H L A G L I C H T E R 57 Prof. Dr. Annette Menting (*1965) ist seit 2000 Professorin für Entwurfsorientierte Baugeschichte und Baukultur an der Fakultät Architektur und Sozialwissen- schaften der HTWK Leipzig. Die Architekturhistorikerin forscht und publiziert zur Architekturgeschichte der Moderne, Denkmalpflege und zeitgenössischen Baukultur.

Architekturgeschichte Im Rahmen der Modernisierung entstand beim Staatstheater Darmstadt der neugestaltete Georg- Büchner-Platz. Früher standen hier Autos dicht an dicht Anhand ausgewählter Aufführungs- orte aus ganz Deutschland erstellte das Forscherteam zudem Fallstu- dien. An diesen zeigten sie, wie sich die Theater und mit ihnen die Aufführungsräume und Spielformate veränderten, aber auch wie die Thea- ter die urbane Identität prägen. Für die Fallstudien recherchierten die For- scherinnen in Archiven, besichtigten die Gebäude vom Keller bis zum Dach und führten Gespräche mit den Bau- herrinnen und Bauherren, den Thea- terleuten und den Architektinnen und Architekten. „Beim denkmalgeschütz- ten Schauspielhaus in Düsseldorf, das zum 50. Jubiläum sorgfältig instand gesetzt wurde, konnten wir erleben, wie sich der Ort dem Publikum stär- ker öffnet: Ergänzend zu den regulären Spielzeiten am Abend hat es sich auch tagsüber zu einem Ort der Begegnung gewandelt“, so Menting. Äußerlich verändert hat sich hingegen das Staats- theater in Darmstadt. In den 1960er Jahren wurde es mit Parkplätzen bis vor das Foyer autogerecht gebaut, wie ein Drive-in-Theater. Mit der Umge- staltung ist anstelle des Parkplatzes ein urbaner Platz entstanden, der S C H L A G L I C H T E R Passantinnen und Passanten zum Ver- weilen einlädt. Sowohl der Umbau als auch die nun bessere Anbindung des Theaters an den öffentlichen Nahver- kehr wirken damit auch auf das Stadt- bild. Neue Fragestellungen für Folgeprojekt ihrer Ergebnisse publizier- Einige ten die Forscherinnen bereits in Fachzeitschriften wie der „Bühnen- technischen Rundschau“, auf ihrer Projektwebsite oder in der zehnten Ausgabe des Online-Journals „MAP“, welche von Büscher und Menting herausgegeben wurde. Aktuell berei- tet das Team weitere Publikationen zur Theaterlandschaft in Deutsch- land sowie zu den Fallstudien vor. Aus den bisherigen Recherchen haben sich für die Forscherinnen weitere Fragestellungen ergeben, die sie in einer Projektfortsetzung bearbeiten werden. Welche Bedeutung haben beispielsweise Denkmalpflege und Industriebaukultur beim Gestalten neuer Theater? Auch wollen sie kul- turelle Einrichtungen im ländlichen Raum in den Fokus rücken, nachdem sie bisher vorwiegend Städte im Blick hatten. — 59

Mit Technik gegen Corona Norditalien im März 2020: Zigtausend Menschen sind an der Lungenkrankheit Covid-19 erkrankt, jeder Zehnte ver- stirbt an der neuartigen Krankheit. Das Gesundheitssystem ist komplett über- lastet. Bei schweren Verläufen müssten viele Patientinnen und Patienten beat- met werden, doch es sind weder genug Intensivbetten noch Beatmungsgeräte vorhanden. In Deutschlands Städten bilden sich allerorts Krisenstäbe, die die Entwicklungen mit wachsender Sorge verfolgen. So auch in Leipzig: „In Italien konnten wir beobachten, was passiert, wenn wir die Pandemie nicht in den Griff bekommen. Im Krisenstab der Stadt Leipzig war uns schnell klar: Wir brau- chen mehr Beatmungsgeräte. Doch auf der ganzen Welt wurden viel mehr Be- atmungsgeräte bestellt als produziert werden können. Deshalb haben wir die HTWK Leipzig angefragt, ob sie ein Not- fallbeatmungsgerät entwickeln können“, erklärt Dr. Christian Aegerter, Haupt- amtsleiter der Stadt Leipzig. Daraufhin bildete sich innerhalb von zwei Tagen eine 25-köpfige Forschungs- gruppe an der Fakultät Ingenieurwissen- schaften. In drei Wochen entwickelten die Spezialisten für Mechatronik, Sen- sorik, Konstruktion, Fertigungstechnik, Software und Regelungstechnik den ersten Prototyp, Mitte Mai war die zwei- te, optimierte Version einsatzbereit. Das Gerät kann Patientinnen und Patienten vollautomatisch beatmen; bei kritischen Situationen ertönt ein Alarm. Über ein Tablet können mehrere Geräte über- wacht sowie Atemfrequenz und Beat- mungsdruck visualisiert werden. „Unser Anspruch war: Das Gerät soll günstig und schnell herstellbar sein und als Not- lösung dienen, falls in einer Klinik alle professionellen Geräte ausgelastet sind. Natürlich ist der Funktionsumfang nicht vergleichbar mit dem eines professionel- len Geräts. In der Kürze der Zeit konnten wir Wissenschaftler natürlich auch kein zertifiziertes Medizinprodukt entwi- ckeln. Aber unser Gerät könnte helfen, kurzfristige Engpässe auszugleichen“, sagt Prof. Fritz Peter Schulze von der HTWK Leipzig. Medizinisch wurde das HTWK-Team durch den Intensivmediziner Prof. Sven Bercker von der Universitätsklinik Leipzig beraten. Er ordnet ein: „Der Ein- satz dieses Geräts ist nur vorstellbar, wenn es im absoluten Notfall keine an- deren technischen Möglichkeiten mehr gibt, um einem Menschen das Leben zu retten.“ Tatsächlich sind die Ingenieure der HTWK Leipzig froh, wenn das Ge- rät niemals zum Einsatz kommen muss. Dr. Hans-Martin Dörfler hat die For- schungsgruppe koordiniert. Er sagt: „Wir werden eine Dokumentation unserer Arbeit frei im Internet veröffentlichen, so- dass Menschen auf der ganzen Welt diese nutzen oder weiterentwickeln können.“ Mit dem Projekt reagierten die Ingenieu- re der HTWK Leipzig schnell auf den ak- tuellen Bedarf von Ärztinnen und Ärzten. Sollten diese, je nach weiterem Verlauf der Pandemie, wieder Unterstützung im Kampf gegen Covid-19 benötigen, stehen ihnen die Forschenden erneut zur Seite. Dr. Hans-Martin Dörfler, Andreas Blum und Frank Schmidt (v. l.) haben zusammen mit 22 weiteren Ingenieuren der HTWK Leipzig ein Notfallbeatmungsgerät entwickelt 61

Als Anne (Name v. d. Redaktion geändert) klein war, wurde sie oft von zu Hause weggeschickt. Wenn sie wiederkam, hat- te ihre Mutter blaue Flecken oder einzel- ne Möbelstücke waren zerstört. Annes Vater war gewalttätig. Jahrelang ging das so. Als sie 18 Jahre alt war, stellte sich Anne das erste Mal gegen ihren Vater und wurde selbst Opfer: „Irgendwann bin ich dazwischengegangen und wurde auch verprügelt.“ Körperliche und sexuelle Übergriffe sind wie keine andere Form der Gewalt räum- lich fixiert. Sie finden zu etwa 70 Prozent zu Hause in den eigenen vier Wänden statt. Besonders betroffen sind nach wie vor Mädchen und Frauen. Rund 81 Pro- zent der über 140.000 zur Anzeige ge- brachten Gewalttaten in Partnerschaften in Deutschland wurden 2018 gegen sie verübt. Die Dunkelziffer ist weitaus grö- ßer. Häusliche Gewalt erleben aber auch Jungen und Männer sowie ältere Men- schen – und sie durchzieht alle sozialen Schichten. Doch welche Bedeutung hat der Wohnraum für das Gewaltgesche- hen? Im Forschungsprojekt „Biogra- fische und räumliche Erfahrungswelten häuslicher Gewalt“ an der HTWK Leipzig führte der Soziologe Dr. Sebastian Schönemann lebensgeschichtliche Inter- views mit Betroffenen und erforschte so das Wechselverhältnis von Raum und Ge- walt in sozialen Nahbeziehungen. Unter- sucht wurde dieser Aspekt bislang nicht, wie die Sichtung nationaler und interna- tionaler Forschungsliteratur zeigte. Dass es einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Raum geben muss, vermu- tete Anja Pannewitz, Professorin für So- zialarbeitswissenschaften an der HTWK Leipzig, schon aufgrund ihrer vorherigen Studie zur Gewalttätigkeit von Mädchen und jungen Frauen. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Prof. Heike Förster leitete sie das Forschungsprojekt zur häuslichen Ge- walt. Räume können Gewaltmuster festigen Um Interviewpartnerinnen und Inter- viewpartner zu finden, rief das Projekt- team ab Juli 2019 über E-Mails, Aushänge und Forenbeiträge zur Studienteilnahme auf. Die Resonanz war unerwartet groß. „Es haben sich durchweg Menschen ge- meldet, die vorher noch nie oder nur im engsten Kreis über ihre Gewalterfah- rungen gesprochen haben“, berichtet Schönemann. Auch für Anne war es das erste Gespräch. Neben ihr wurden zehn weitere Frauen und ein Mann befragt, alle zwischen 20 und 65 Jahren alt. Offen und anonym erzählten sie ihre Lebensge- schichten. Bei der Fallanalyse von Anne zeigte sich beim Raum-Verhalten eine klare Stra- tegie: das Wegschicken des Kindes. So brachte ihre Mutter sie zu Verwandten, Freunden oder Bekannten, wenn die Ausschreitungen des Vaters drohten, zu rabiat zu werden. Anne, die heute fast 65 Jahre alt ist, interpretiert das als Schutzmaßnahme ihrer Mutter. Sie sollte schließlich nichts mitbekommen. Doch nur so sei die Gewaltlogik aufrechterhal- ten worden und nur so sei die familiäre Gewalt über diesen langen Zeitraum in- takt geblieben, so das Forschungsteam. Manchmal musste Annes Mutter auch Häusliche Gewalt Schläge ertragen, wenn Anne zu Hause war. Das war dann meist im Schlafzim- mer, eine räumliche Tabuzone für das Mädchen. Wer als Kind Gewalt erlebt, ist später gefährdeter „Menschen, die bereits als Kind Zeuge beziehungsweise Zeugin oder Opfer ge- worden sind, haben als Erwachsene ein höheres Risiko, wieder mit solchen Grausamkeiten konfrontiert zu werden oder selbst zur Täterin oder zum Täter zu werden“, erklärt Schönemann. Ge- walt müsse dabei als extremste Form der Konfliktbearbeitung verstanden werden. Durch das frühe Erleben könne man sich an gewaltvolle Formen der Problembe- wältigung gewöhnen und diese stärker akzeptieren. Anne hingegen konnte den Zirkel der Gewalt durchbrechen und musste glücklicherweise keine Vergehen mehr erleben. Durch die Interviews erkannte das For- schungsteam dringenden Handlungsbe- darf, denn sie zeigen den ungedeckten Bedarf an Hilfe und die hohe Dunkel- ziffer der tatsächlichen Betroffenheit. Pannewitz fordert deshalb: „Die Sensibi- lisierung für häusliche Gewalt muss wei- ter vorangetrieben werden.“ — frb S C H L A G L I C H T E R 63

künftige Bauprojekte, insbesondere auch für jene, bei denen aus ästhetischen Erwägungen, aus Platzmangel oder auf- grund von Denkmalschutz die Wände möglichst schlank sein sollen. „Inso- fern sind Carbonbeton und Aerogel- Dämmung wie füreinander gemacht“, urteilt die Materialexpertin Nadine Zschau von der Forschungsgruppe Nach- haltiges Bauen an der HTWK Leipzig. Forschungskooperation mit BASF Bevor neue Materialien in Deutschland regulär in Bauprojekten eingesetzt wer- den können, müssen Handhabung, Ein- satzgebiete und Grenzen ausführlich untersucht und dokumentiert werden – im besten Fall anhand von konkreten Pilotprojekten. Mit dieser Begleitfor- schung hat BASF das Forschungs- und Transferzentrum an der HTWK Leipzig beauftragt. „Wir haben alle Kennwerte erhoben und umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit den neuen Dämmstof- fen gesammelt, die für die Planung von Projekten unter Einsatz von Slentex und Slentite nötig sind“, sagt Projektleiter Alexander Kahnt. Dabei klärten die Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler Fragen wie: Mit welchen Werkzeugen können die Dämmstoffe verarbeitet wer- den? In welchen Fällen ist der Einsatz nicht nur ökologisch, sondern auch wirt- schaftlich lohnend? Wie sehen konstruk- tive Detaillösungen aus, welche über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes sicher funktionieren? Um den Wärme- und Feuchtigkeitsaustausch im Material unter verschiedenen Bedingungen zu untersuchen, nutzte die Forschungs- gruppe computerunterstützte Simula- tionsprogramme. In den HTWK-eigenen Laboren erfolgten dann umfangreiche Validierungsprüfungen. In Dresden entsteht derzeit ein Haus, das einen Einblick in die Zukunft des Bauens ermöglicht: der Cube. Seine Außenwän- de sind nur 27 Zentimeter dick – rund ein Drittel dünner als konventionelle Wände. Ermöglicht wird dieser technische Fort- schritt durch eine Sandwichkonstruktion aus zwei neuartigen Materialien: Car- bonbeton und Aerogel-Dämmung. In die Entwicklung von Carbonbeton ist die HTWK Leipzig seit Jahren über den mehr- fach preisgekrönten Forschungs- verbund C³ eng eingebunden. Bau- teile aus Carbonbeton sind deutlich schlanker als ihr herkömmliches Pendant, der Stahlbeton. Neben vielen anderen Vorteilen eröffnet das neue architektonische Möglich- keiten und eine effizientere Platz- ausnutzung. Doch eine Dämmung mit konventionellen Materialien würde diese Vorteile teilweise auf- heben. Winzige Luftporen sorgen für Dämmung Im Cube werden deshalb neue Aerogel-Dämmstoffe der Firma BASF verwendet: Slentex und Slentite. Sie bestehen zum Groß- teil aus Luft, eingeschlossen in winzige Poren in einem Material auf mineralischer Basis (Slentex) beziehungsweise auf Polyurethan- Basis (Slentite). Die poröse Struk- tur sorgt für eine stark reduzierte Wärmeübertragung: Umso kleiner die Poren, desto mehr werden die darin eingeschlossenen Luftmo- leküle in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Durch die ausgesprochen gute Wärmedämmung benötigen die Hochleistungsdämmstoffe nur halb so viel Raum wie herkömmliche Baustoffe. Damit eignen sie sich hervorragend für Bauwesen Um die neuen Dämmstoffe zu erproben, bietet sich ein reales Bauprojekt wie der in Dresden entstehende Cube beson- ders an: Forscherinnen und Forscher der HTWK Leipzig sind für die Bauteil- entwicklung und Produktionsplanung der Wandelemente des Gebäudes zu- ständig. Nach Fertigstellung im Frühjahr 2022 werden sie mithilfe eingebauter Messtechnik den Wärme- und Feuchte- schutz überwachen und so die Dauer- haftigkeit der neuen Materialien weiter untersuchen. S C H L A G L I C H T E R Ressourcen schonen Für den Bau und Betrieb von Gebäu- den werden weltweit enorme Men- gen an Energie und Rohstoffen ver- braucht. Bei Neubauten wird derzeit am häufigsten Stahlbeton verwen- det. Da Stahl korrodiert, braucht er eine dicke Schicht Beton als Schutz. Bei Carbonbeton kann die nötige Betonschicht bis zu 80 Prozent dün- ner sein, denn die Carbonbewehrung kann nicht rosten. Folglich wird we- niger Zement und Sand eingesetzt und das spart neben Rohstoffen auch Energie und CO₂. Während der „Lebenszeit“ eines Gebäudes schlägt vor allem die benötigte Energie für Heizen und Kühlen zu Buche. Mehr als ein Viertel des gesamten Energie- verbrauchs in Deutschland entfällt allein darauf. Eine effiziente Däm- mung könnte den Heizenergiebedarf erheblich senken. 65

Die Architekturstudenten Fabian Eidner (links) und Theodor Reinhardt neben den „Swaying Straws“ Forschung und Design Swaying Straws (Wiegende Halme) besteht aus 320 schwar- zen Papierstrohhalmen und 160 orangenen Verbindungs- elementen aus Kunststoff. Was auf den ersten Blick wie ein reines Designobjekt aussieht, ist eine geniale Konstruk- tionsidee für organisch gekrümmte Gebäudefassaden. Die Innovation sind die Verbindungselemente: Sie haben alle eine individuelle Geometrie und stammen aus dem 3D-Drucker. Jeder Knoten verbindet vier gerade Stäbe. Bei Swaying Straws entsteht so eine 2,36 Meter hohe Netzstruk- tur mit 80 Zentimetern Durchmesser, die sich im Wind zu wiegen scheint. Maßstäblich vergrößert, könnte das Netz die Unterkonstruktion für eine Fassade aus Glas-, Metall- oder Holzplatten bieten. Swaying Straws wurde von den beiden Architekturstudenten Fabian Eidner und Theodor Reinhardt noch während ihres Bachelor-Studiums mit Unterstützung der Forschungsgruppe Flex (Forschung. Lehre. Experiment) entworfen und gebaut. „Ziel unserer Forschung ist es, mehr- fach gekrümmte Fassaden- und Dachkonstruktionen in Zu- kunft mit deutlich weniger Materialeinsatz – und damit ressourcenschonender – bauen zu können. Dafür setzen wir auf eine konsequente Digitalisierung des gesamten Ent- wurfs-, Planungs- und Fertigungsprozesses und auf automa- tisierbare Verfahren wie den 3D-Druck“, ordnet Forschungs- gruppenleiter Prof. Alexander Stahr ein. In Zukunft möchte er die Konstruktionsidee bis zur praktischen Anwendbarkeit in der Architektur weiterentwickeln.

S C H L A G L I C H T E R Leipzig führt die Games- Branche in Sachsen an Lange Nacht der Computer- spiele an der HTWK Leipzig Das Zentrum der sächsischen Games- Szene ist Leipzig. Das ergab eine Stu- die der HTWK-Professorin Gabriele Hooffacker und des Kommunikations- wissenschaftlers Dr. Benjamin Bigl im Auftrag der Stadt Leipzig. Dafür wurden mehr als einhundert Beschäftigte der Games-Branche im ersten Halbjahr 2020 systematisch befragt. Etwa die Hälfte be- antwortete alle Fragen. Digitale Spiele sind seit mehr als vierzig Jahren ein globaler Wachstumsmarkt, sowohl die Nutzerzahlen als auch der Umsatz steigen stetig an. In Deutschland wurden 2018 rund 4,4 Milliarden Euro mit Computer- und Videospielen und mit Games-Hardware erwirtschaftet. „Nur vier Prozent der Umsatzerlöse entfallen auf Spieleentwicklungen aus Deutsch- land, und das, obwohl mehr als 34 Mil- lionen Menschen hierzulande Games spielen. Die zentralen Erlöse der Wert- schöpfungskette finden also außerhalb Deutschlands und vor allem Sachsens statt“, ordnet Hooffacker den Markt ein. Über die sächsischen Spielehersteller war bislang wenig bekannt. Mit dem vorliegenden Gutachten hat sich das geändert, denn nun sind wichtige Eck- zahlen bekannt: „Die sächsische Games- Szene besteht vorwiegend aus Kleinst- und Kleinunternehmen“, so Bigl. Dabei sind die Beschäftigten überdurchschnitt- lich gut ausgebildet: Rund drei Viertel ver- fügen über einen Hochschulabschluss. Allerdings lebt rund ein Fünftel mit einem Einkommen unterhalb des Existenz- minimums. Die Hälfte der Befragten fin- det es schwer, in der Region ihr Einkom- men zu sichern. Entsprechend wünschen sich viele Befragte passgenaue regiona- le Förderprogramme, da sie meist aus Sachsen stammen und gerne in ihrer Hei- mat arbeiten möchten. „Nur jedes vierte befragte Unternehmen beurteilt den Freistaat derzeit als wirt- schaftlich attraktiv“, so Bigl. Dabei wird der Standort prinzipiell positiv bewer- tet, vor allem hinsichtlich der Faktoren Lebensqualität und Freizeitmöglichkei- ten, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie den Möglichkeiten der kreativen Entfaltung. Defizite sieht die Branche vor allem in der technisch-digitalen In- frastruktur, der Verfügbarkeit von quali- fiziertem Personal sowie den Informati- ons- und Förderangeboten von Stadt und Land. Dass Leipzig innerhalb Sachsens der wichtigste Standort der Computerspie- leindustrie ist, liegt auch an den Vernet- zungsmöglichkeiten: So kommen bei- spielsweise an der HTWK Leipzig jedes Jahr bis zu 3.000 Games-Begeisterte mit Entwicklerinnen und Entwicklern bei der „Langen Nacht der Computerspiele“ in Kontakt. Wirtschaftsbürgermeister Uwe Albrecht äußerte zur Veröffentlichung der Studie: „Die Stadt Leipzig möchte die sächsische Games-Branche auf dem Weg von einer Nischenbranche hin zu einem wirtschaftlich relevanten Cluster unter- stützen. Dazu wollen wir die Verbindung zwischen Politik, Verwaltung, Unterneh- men und Hochschulen stärken.“ 69

Soziale Arbeit Beim etablierten Situationsansatz greifen die Fachkräfte alltägliche Lebenssitua- tionen der Jungen und Mädchen in ihrer feststehenden Kindergruppe auf, um sie auf eine selbstbestimmte Lebensführung vorzubereiten. Hingegen stehen in der offenen Arbeit die Selbstbildungsprozes- se der Kinder stärker im Fokus, die Fach- kräfte geben lediglich Impulse. Die Kinder können dabei selbst wählen, mit wem und in welchem der zugehörigen Funk- tionsräume, zum Beispiel in der Kinder- küche, im Bau- oder Musikzimmer, sie ihre Zeit verbringen. Gerade in Krankheitszeiten sei die Be- lastung sehr hoch, weil dann durch- schnittlich 20 Kinder gleichzeitig betreut werden müssen. „In dieser Zeit tun mir die Kinder sehr leid“, so eine Erzieherin. Mehr Zeit wünschen sich die Befragten auch, um die Entwicklung der Kinder beo- bachten oder neue Projekte planen zu können, um neue Kompetenzen zu er- werben, ihre pädagogische Arbeit weiter- zuentwickeln und die Zusammenarbeit mit den Eltern voranzubringen. Auch eine Entlastung bei den Verwaltungsauf- gaben sei dringend erforderlich. S C H L A G L I C H T E R Überraschend war für Großmann, dass Teams in der offenen Arbeit eher Berüh- rungsängste gegenüber Kindern aus an- deren Kulturen oder mit Behinderungen haben als Teams im Situationsansatz. Dabei seien Integration und Inklusion in allen Einrichtungen zentrale Anliegen, doch bei den derzeitigen Arbeits- und Rahmenbedingungen nur begrenzt um- setzbar. Politik aufgefordert Im Februar 2021 beendete Großmann ihre Dissertation: „Eines ist klar: Nur mit verbesserten Arbeitsbedingungen sowie Zeit und Raum für Kompetenzentwick- lung können Kitas ihren Arbeitsauftrag in der gewünschten Qualität leisten.“ Pädagoginnen und Pädagogen haben eine hohe Verantwortung für die Kinder. Eine adäquate Erziehung, Betreuung und Bildung ist aber nur mit einer Ent- lastung der aktuellen Arbeitssituation zu ermöglichen. Oder mit den Worten einer Erzieherin aus Großmanns Studie: „Die Politik darf nicht die Augen vor der schlimmen Situation in Kitas schließen, denn es geht um die Menschen, die in 20 Jahren unsere Gesellschaft mitgestal- ten werden.“ — frb Einige „völlig überfordert“ Für ihre Doktorarbeit beantworteten die Fachkräfte einen Fragebogen mit mehr als 600 Einzelfragen. Insgesamt 74 Päda- goginnen und Pädagogen antworteten; die zehn Kita-Leiterinnen gaben zusätz- lich Interviews. „Bei der Auswertung bestätigte sich weitestgehend, was die Medien suggerieren“, so die Doktorandin: Über die Hälfte der pädagogischen Fach- kräfte gab an, mit den Arbeitsanforderun- gen mindestens „zunehmend“ bis „völlig überfordert“ zu sein. Auch die Leiterinnen berichten von einer grundlegend hohen Arbeitsbelastung. Das Stimmungsbild zeigte außerdem, dass die Leiterinnen und Fachkräfte des Situationsansatzes insgesamt ein wenig zufriedener in ihrem Tätigkeitsfeld sind als jene der offenen Arbeit. Diese sprachen sich hingegen positiver in Bezug auf Gebäude, Aus- stattung, verfügbare Finanzen sowie den Zugang zu Weiterbildungen aus. Kleinere Gruppen gewünscht Um die hohe Arbeitsbelastung zu min- dern, wünschen sich die Befragten vor allem einen besseren Personal- und Be- treuungsschlüssel. „Wären die Gruppen kleiner, würden viele Probleme weg- fallen oder zumindest besser zu hand- haben sein“, meint eine Kita-Leiterin. 71 Mehrere hundert Kita-Erzieherinnen und -Erzieher zogen am Weltkindertag 2018 durch die Leipziger Innenstadt. Ihr Anlie- gen: auf die schlechten Arbeitsbedingun- gen hinweisen. Sie forderten mehr Perso- nal, einen besseren Betreuungsschlüssel und vor allem mehr Zeit für die Kinder. Im Folgejahr wurden zwar mehrere Kitas neu eröffnet und damit weitere Kita- Plätze geschaffen, doch es mangelt wei- terhin an Fachkräften. Die Sorgen und Nöte von pädagogischen Fachkräften, Kita-Leitungen und Eltern kennt auch Daniela Großmann gut. Die 40-Jährige ist selbst zweifache Mutter. Nach ihrer Ausbildung zur Einzelhandels- kauffrau und ihrem Sozialpädagogik- Studium arbeitete sie ab 2011 in Kitas. In Gesprächen beklagten Kolleginnen und Kollegen immer wieder die gleichen Pro- bleme: stetiger Personalausfall oder -wechsel, zu große Kindergruppen, immer mehr Aufgaben, höhere fachliche Anfor- derungen und zusätzlicher Stress durch An- und Umbauten der Einrichtungen. Erste Regionalstudie Großmann wollte deshalb herausfin- den, wie zufrieden Fachkräfte und Kita- Leitungen in Leipzig tatsächlich mit ihrer Arbeit sind. Im Juli 2016 begann sie für ihre kooperative Promotion an der HTWK Leipzig und der Universität Leipzig zu for- schen. In einer empirischen Vergleichs- studie untersuchte sie am Beispiel von zehn Leipziger Kitas die Arbeitszufrie- denheit und das Belastungsempfinden von Fachkräften. Diese arbeiteten ent- weder nach dem pädagogischen Hand- lungskonzept des Situationsansatzes oder der offenen Arbeit. Weder eine solche Regionalstudie noch einen kon- zeptionellen Vergleich gab es bislang.

halb Jahre später war es dann soweit: Die Empfangsanlage auf der Raumsta- tion wurde eingeschaltet. Im März 2020 wies Krondorf die erfolgreiche Kommu- nikation zwischen Funksensoren und ISS nach. Danach folgten umfangreiche Tests von verschiedenen Punkten der Erde aus. Im September wurde die Tech- nik schließlich ans MPI für Verhaltens- biologie übergeben. Schwarmintelligenz der Tiere nutzen Perspektivisch sollen nicht nur die Wan- derungen von Vögeln erforscht werden. Auch Fledermäuse und Flughunde, Mee- resschildkröten und Fische sowie große Tiere sollen vom Weltraum aus beo- bachtet werden. Durch die umfassen- de Beobachtung könnten neben einem besseren Verständnis für die Tiere selbst auch völlig neue Erkenntnisse entstehen. Denn oft fliehen Tiere vor Erdbeben und anderen Naturkatastrophen, bevor der Mensch die drohende Gefahr bemerkt. Die Daten aus dem Icarus-Projekt könn- ten so die Schwarmintelligenz der Tiere für den Menschen nutzbar machen und für den Katastrophenschutz eingesetzt werden. „Erst mithilfe der Icarus-Tech- nologie können wir die Informationen unserer tierischen ‚Spürhunde‘ nutzen, um ein neues Zeitalter der Erdbeobach- tung einzuleiten. Gleichzeitig werden wilde Tiere damit als Informanten für uns Menschen so wichtig, dass wir sie immer besser schützen wollen“, sagt Icarus- Leiter Wikelski. Daneben sind auch Epi- demiologinnen und Epidemiologen an der Technik interessiert: Mithilfe von Icarus möchten sie die Ausbreitung von Seuchen durch tierische Träger besser überwachen. Die internationale Wissenschaftscom- munity wartet gespannt auf die ersten Ergebnisse der Biologinnen und Biolo- gen. Unterdessen geht auch die techni- sche Entwickelung weiter: „Im nächsten Schritt wollen wir die Tags noch kleiner und leichter machen. Aktuell wiegen sie fünf Gramm. Aber für kleinere Tiere als Amseln ist das zu schwer. Mit sehr klei- nen Tags könnten wir vielleicht sogar die Ausbreitung von Heuschreckenplagen aus dem All beobachten“, sagt Marco Krondorf. Mit Icarus können Forscherinnen und Forscher die Bewe- gungen vieler tausend Tiere weltweit verfol- gen – und dies rund um die Uhr Prof. Marco Krondorf wurde im März 2020 an die HTWK Leipzig berufen und führt hier seine Forschung in Koope- ration mit dem Icarus-Projekt fort 73

Projektpartner und Förderungen Impressum und Bildnachweise Viele der im Forschungsmagazin vorgestellten Projekte werden durch öffentliche Förderprogramme unterstützt. Wir bedanken uns bei allen Fördergebern für die Unterstützung und Zusammenarbeit. F O R S C H U N G A N F A C H H O C H S C H U L E N S. 16 S. 24 S. 30, 64: S. 38, 61, 62 S. 46, 50, 51: S. 52, 69: S. 52, 55, 66, 70: S. 54, 56: Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummern 5445049 und 284156660 S. 72: Diese Ausgabe des Forschungsmagazins Einblicke wird aus Mitteln des Projekts Saxony5 finanziert, das im Rahmen des Bund-Länder-Programms Innovative Hochschule gefördert wird. Herausgeber Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, Referat Forschung Anschrift Postfach 30 11 66 04251 Leipzig Redaktion Dr. Rebecca Schweier (verantwortlich), Dr. Franziska Böhl, Katrin Haase und Dirk Lippik Telefon: +49 341 3076-6101 einblicke@htwk-leipzig.de Alle Texte, soweit nicht anders angegeben, von Dr. Rebecca Schweier. Redaktionsschluss 26. Februar 2021 Corporate Identity wenkerottke GmbH, Berlin Grafisches Konzept, Layout, Satz und Grafik Aileen Burkhardt, Punze Typografie, Leipzig Druck Quedlinburg Druck GmbH Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft Auflage 3.000 ISSN Printausgabe: 2194-4067 Online-Ausgabe: 2195-9420 Bildnachweise Titelfoto: Maximillian Johnson U2, S. 19–21, 22 o., 23. 27, 29: Stephan Flad S. 3: Tom Schulze S. 4, 13, 22 u., 28, 50, 52, 70: Maximillian Johnson S. 12: Jürgen Jeibmann Fotografie S. 14: Bernhard Huber / Fraunhofer S. 18, 54, 66, 67, 70: Robert Weinhold S. 33: Christian Kortüm / Mitnetz Gas S. 45: pixabay S. 49, 51: Startbahn 13 S. 55: Lizette Ardelean S. 57: Matteo Visentin S. 58 u.: Wolfgang Runkel S. 59 o.: Annette Menting S. 60: Charlotte Venema / unsplash.com S. 62. Luke Porte / unsplash.com S. 64 gr.: Iurii Vakaliuk, IMB, TU Dresden S. 64 kl.: Katrin Pohl S. 69: Lars Grimmer S. 72: Dr. Jacob Stierle / MPI für Verhaltensbiologie S. 73 o.: MaxCine S. 73 u.: Thomas Schlorke S. 74: Swen Reichhold Soweit nicht anders angegeben: HTWK Leipzig Abo