Das beste Mittel gegen Lampenfieber vor einer Rede für 1600 Erstsemester und Ehrengäste: nicht wissen, dass man der Redner ist. So erging es Ines Vorwerg (26) bei der Feierlichen Immatrikulation am 10. Oktober im Leipziger Gewandhaus. Die HTWK-Studentin sagte eine Viertelstunde vorm Showdown spontan zu, rettete so das studentische Grußwort – und zwar mit Bravour. Die Hochschule meint: Chapeau!
15.06 Uhr, Gewandhaus, Eingangsbereich: Ines Vorwerg hält in den Menschenmengen Ausschau nach dem Presseteam. Die Managementstudentin ist heute Aushilfe. Wenn die Erstsemester in zwei Stunden offiziell in die Reihen der Hochschule aufgenommen sind und das Haus verlassen, soll sie am Ausgang den brandneuen HTWK.report verteilen. Leichte Übung, Stressfaktor Null.
15.11 Uhr, gleiche Stelle: Rektorin Gesine Grande ist eingetroffen – und hat eine Hiobsbotschaft für die Organisatoren im Gepäck. Traditionell begrüßt der Studierendenrat die Neuen, doch soeben hat der Sprecher kurzfristig abgesagt. Krank. „Oh, Ines, dann musst du wohl ran“, sagt einer aus dem PR-Team und knufft der 26-Jährigen in die Seite. Das war natürlich ein Scherz. Allerdings nicht für die Rektorin, die umgehend die Lage sondiert. „Ähm, nun ja, Sie studieren ja wirklich bei uns, nicht wahr?! Hmmh, was denken Sie? Können Sie das? Machen Sie das für uns, das wäre großartig?!“ Ines wirkt kurz überfahren. Das Jahrbuch austeilen, mit Gehirn im Economy-Modus, na gut – und nun das …
15.12 Uhr: Ines sagt zu. Ein wenig zögerlich.
15.13 Uhr: Bevor Ines den spontanen Entschluss bereuen kann, macht Rektorin Grande geschickt den Sack zu: Es gehe ja nur um ein paar Minuten. „Seien Sie einfach Sie selbst.“ Und sowas. „Was würden Sie denn sagen?“ Die Berater wollen einflüstern, Grande bremst ihre Mannschaft aus und wendet sich an die Studentin: „Nee nee, sagen Sie doch wirklich einfach mal selbst frei heraus, was Sie so ansprechen würden.“ Kurzes Schulterzucken. Dann: Gute Entscheidung. Tolle Stadt. Prima Hochschule. Vor zwei Jahren saß ich auch da unten. Genießt das Leben, und auch das Studium. Sogar das macht Spaß. Meistens.
15.14 Uhr: Die spontanen Schnipsel gefallen sehr, die Rektorin atmet innerlich tief durch. Ein sehr überzeugtes „Sie schaffen das!“, dann eilt Grande zum Bühneneingang.
15.15 Uhr, etwas abseits: Ein Zettel wird gezückt. Stichworte wandern zu Papier. „Aufgeregt, Ines?“ - „Nöö, geht. Bin ich ganz rot?“ Entwarnung. Nix ist rot.
15.21 Uhr: „Darf ich dann eigentlich auch gleich für den Ba-Hu-Elferrat werben?“ Jetzt wird’s also strategisch, Ines ist Närrin durch und durch, der Ba-Hu ist zwar die Institution der Hochschule für die fünfte Jahreszeit, aber Werbung kann ja trotzdem nicht schaden. Daher: „Ganz ehrlich, Ines – wer bitte sollte dir das verübeln? Verknüpf‘s doch mit deinem Engagiert-Euch-Aufruf …“ Ines entspannt zunehmend.
15.32 Uhr: Ines sitzt in Reihe 1, quasi schon halb auf der Bühne. Auf die leeren VIP-Plätze nebenan ziehen Hochschulleitung, Senatoren und Ehrengäste ein. Rektorin Grande nickt ihr zu. Musik setzt ein, die Veranstaltung läuft.
15.52 Uhr: Die erste Rede hat Rektorin Grande selbst gehalten, die Neuen sind jetzt offiziell auch „HTWK“. Grande blinzelt: „Und jetzt muss ich wirklich noch was erzählen“, sagt sie und umreißt in groben Zügen, warum jetzt nicht der StuRa spricht, sondern Ines Vorwerg.
15.53 Uhr: Besagte Ersatzperson nimmt sich in einer Souveränität die Bühne, die sie vorher selbst nicht erahnt hätte. Ihr DIN-A7-Block erweist sich nach dem ersten Satz als untauglich und unnötig zugleich. Ines wirft ihn aufs Pult und schaltet um auf „freie Rede“. Die gelingt ihr in herzerfrischender Weise. Natürlich kommt der Ba-Hu stellvertretend für sinnvolles studentisches Freizeitverhalten ins Spiel.
15.55 Uhr: Ines adelt die Hochschulbibliothek („Echt, die ist toll. Nicht wie bei der Uni. Da kriegt ihr keinen Platz, das ist voll, das nervt. Leiht euch dort Bücher, okay, aber dann lest sie hier in der Bibo!“). Im Auditorium strahlt die Bibo-Chefin.
15.56 Uhr: Ines adelt die Stadt Leipzig. („Was man hier alles machen kann, Kultur, Sport! Wahnsinn.“) Im Auditorium strahlt Leipzigs OBM Burkhard Jung – obwohl sie ihm soeben seine Kernbotschaft geklaut hat. :-)
15.57 Uhr: „Und bildet Euch hier. Macht was für Euch. Bleibt dran.“ Dann fällt da noch dieser Satz: „Ach ja, und macht diesen Rhetorik-Kurs, ich glaube, das hilft.“ Herzhaftes Lachen aus etwa 1600 Kehlen. Eigenen Angaben zufolge ohne nennenswerte Moderationserfahrung, läuft die Studentin zu Hochform auf und ist sich dessen offenbar in gewitzt-charmanter Weise bewusst. Ein kurzer Gruß, und für Ines Vorwerg fällt der Vorhang.
17.14 Uhr: Am Eingang werden die Jahresberichte verteilt. Ines sagt hinterher: „Ich glaube, ich weiß jetzt, wie sich die Affen im Zoo fühlen.“ – „Ähm Ines, also mich wundert das jetzt nicht!“
17.33 Uhr: „Echt gut, dass ich mir die Bluse noch angezogen habe. Also wenn ich das gewusst hä…“ – „Ines, äh, lass uns mal da hinten die Treppe raufgehen. Da oben gibt’s irgendwo Häppchen. Ich denke, du bist eingeladen.“
(Autor: Reinhard Franke)