Susan Radisch und Sebastian Lorenz wurden schon zwei Mal für ihre gemeinsame Architektur-Masterarbeit ausgezeichnet. Das kann kein Zufall sein.
Leipzig ist eine, ebenso Berlin, München war es in den 1970er/80er Jahren des vorigen Jahrhunderts: eine „Schwarmstadt“ – eine Metropole, wo das Leben tobt und deswegen „alle hinwollen“, die jung und hip sind (oder es sein wollen). Doch was wird aus den Orten, die sie hinter sich lassen? Verlieren diese unweigerlich den Großteil der jungen Menschen und damit ihre Zukunft? Ist das unvermeidlich? Und vor allem: Können wir das wollen? Aber: Wie gegensteuern? Fragen über Fragen, die in unser aller Zukunft weisen. Auch an der HTWK Leipzig setzen sich Studierende damit auseinander. Bei der Masterarbeit „Stagnierende Mittelstädte - Entwicklung einer städtebaulichen Impulsstrategie am Beispiel der Stadt Zeitz“ standen die sogenannten Mittelstädte, also Städte mit 20.000 bis 99.999 Einwohnern, im Fokus. Wer nun darüber stolpert, dass ja Städte mit 20.000 Einwohnern kaum mit solchen vergleichbar scheinen, die knapp das Fünffache an Einwohnern zählen, lernt, dass diese Orte nochmal in kleine (20.000-50.000 Einwohner) und große Mittelstädte (50.000-99.000 Einwohner) unterteilt werden. Doch egal welche Kategorie - viele dieser Städte sind von Stagnation bedroht. „Diese Phänomene lassen sich gegenwärtig im ganzen Bundesgebiet beobachten. Hand in Hand mit dieser Entwicklung gehen Leerstand sowie eine Entwertung von Grundstücks- und Wohnungspreisen am Rande der Metropolen“, sagt Sebastian Lorenz zu den Folgen dieser Entwicklung.
Beispiel Zeitz
Gemeinsam mit Susan Radisch hat er dieses Thema am Beispiel der Stadt Zeitz durchdekliniert. Die Dom- und Residenzstadt im Süden Sachsen-Anhalts zählte noch im Jahr 1984 rund 43.500 Einwohner. Gegenwärtig sind es nur noch ca. 28.400 (Stand 2017). Der einst pulsierende Ort verzeichnet aktuell einen Leerstand von knapp einem Drittel. Hinzu kommt ein verschwindend geringer Anteil der Bevölkerungsschicht zwischen 25 und 45 Jahren, also der reproduktionsfähigen Jugend. Das wiederum bedeutet: potentielle Arbeitskräfte und Anwohner fehlen – jetzt und auch in Zukunft. Warum gerade Zeitz? „Wir sind beide selbst in stagnierenden Mittelstädten aufgewachsen – in Merseburg bzw. Döbeln. Wir wollten aber eine Stadt finden, die wir objektiv betrachten können. Zeitz bot eine optimale Grundlage hinsichtlich der bestehenden Bausubstanz, Demographie, Stadtgeschichte und der regionalen Lage.“ Lorenz und Radisch untersuchten Strukturen und Potentiale der Stadt. Zusätzlich versuchten sie, bislang unentdeckte städtebauliche Perspektiven zu schaffen, um Anwohnern, Interessierten und auch Weggezogenen potentielle bzw. bislang ungenutzte Stadträume und damit verbundene Möglichkeiten aufzuzeigen, zum Beispiel die Elsterwiesen. „Mit vergleichsweise kleinen Eingriffen könnten diese wieder hergestellt werden und dadurch könnte eine neue urbane Qualität geschaffen werden, z.B. mit einem Wegesystem, ‚Hochwassermöbeln‘ und vielem mehr“, so Susan Radisch.
Einblicke in die Masterarbeit:
Das Prinzip „Baukasten“
Ziel war es, basierend auf dem Beispiel Zeitz - und einer Auswahl von 65 anderen bundesdeutschen Mittelstädten - eine möglichst allgemeingültige „städtebauliche Impulsstrategie“ gegen die kontinuierliche Schrumpfung zu entwickeln, also eine Art Blaupause. Dabei wurden die Aspekte Lage, Demographie und Grad der Stagnation einbezogen. Radisch und Lorenz verglichen die Stadtentwicklungskonzepte miteinander und analysierten die jeweiligen Leitbilder. So konnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert werden, aber auch Aspekte, die möglicherweise Impulse für eine Weiterentwicklung geben können. „Daraus ergaben sich einzelne Handlungsfelder. Sie sind als Angebot gedacht, bestehende Konzepte zu prüfen, zu ergänzen und zu entwickeln – individuell angepasst an die jeweiligen örtlichen Besonderheiten“, so Radisch und Lorenz. Zu den insgesamt 18 Handlungsfeldern zählen unter anderem Region, Bildung, Verkehr, Identität/Image, Stadtwesen und Wohnen. Zum Handlungsfeld Identität/Image gehört beispielsweise der Schwerpunkt "Historische Stadtsubstanz bewahren“ – wie bei der historischen Stadtbibliothek Zeitz angewandt. Im Grunde liefern Radisch und Lorenz einen „Baukasten“ mit Handwerkszeug, das individuell genutzt werden kann. Nun kommt es auf die Anwendung an.
Zwei Auszeichnungen
Das Konzept wurde bereits zweimal ausgezeichnet: Im November 2018 wurde die Arbeit von Lorenz und Radisch mit Platz 4 der „Baunetz Campus Masters“ und im September 2019 mit dem Förderpreis der Sommerakademie der Kulturstiftung Hohenmölsen (SOMAK) geehrt. Die BauNetz „Campus Masters“ prämieren nach eigener Aussage „die besten Abschlussarbeiten der nächsten Architekten-Generation“ - ausgewählt von BauNetz, einem deutschsprachigen Online-Magazin für Architektur, bewertet von den Nutzern und immer auch durch das Votum eines renommierten Architekten. Begründung der Jury: „In Zeiten, in denen alle über Wohnungsmangel und bezahlbares Wohnen diskutieren, thematisieren die Verfasser ein Thema, welches nach intensiver Diskussion seit den 2000er Jahren in Vergessenheit geraten ist: Das Problem der Schrumpfung und Stagnation von Städten. Der eklatante Wohnungsmangel in den Großstädten und beliebten Ballungsräumen ist dabei nicht konträr, sondern auch Teil derselben Entwicklung. Die Steigerung der Attraktivität stagnierender Städte kann ein wichtiger Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage sein. Durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema zeigen die beiden Verfasser Haltung und einen Sinn für ihre gesellschaftliche Verantwortung. … Die Arbeit eröffnet neue Handlungsfelder für Architekten und Stadtverantwortliche und trägt so zu einem wirklich relevanten Thema bei: die lebenswerte Stadt.“
Der Förderpreis der Sommerakademie der Kulturstiftung Hohenmölsen ist mit 1.000 Euro dotiert. Die alljährliche Sommerakademie stand unter dem Motto „Reallabor Mitteldeutschland - Chancen für den Strukturwandel entdecken“ und stellt im Grunde genau die Fragen zum Strukturwandel in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, die auch Radisch und Lorenz umtreiben: Wie gehen wir die regional- und strukturpolitischen Herausforderungen des Braunkohlenausstiegs an? Welche Erfahrungen aus dem Strukturwandel nach 1989 helfen uns in der derzeitigen Situation? Wie bündeln wir all die Ideen, die im Umlauf sind? Prof. Dr. Andreas Berkner (Uni Leipzig), Kuratoriumsvorsitzender und Vorsitzender der SOMAK-Jury, stellte in seiner Laudatio für die Preisträger fest, dass sich Mitteldeutschland in einem Spannungsfeld zwischen wachsenden Metropolen und „versteckten Perlen“ befindet: „Dazu zählt auch das Mittelzentrum Zeitz. Das Engagement der Preisträger, sich kreativ, dialogorientiert und professionell visualisiert mit den dort vorhandenen Entwicklungspotenzialen auseinanderzusetzen, hat die Jury überzeugt.“
Drei Fragen an Susan Radisch und Sebastian Lorenz
Warum haben Sie gerade dieses Thema für Ihre Masterarbeit gewählt?
SL/SR: „Unsere Heimatstädte sind Mittelstädte. Wir sind mit dem Phänomen der Stagnation aufgewachsen. Das Architekturstudium ermöglichte uns die fachliche Auseinandersetzung mit der Thematik, daher rührt das Interesse, einen vorerst allgemeinen Lösungsansatz zu entwickeln. Mit der Arbeit wollten wir einen Mehrwert - nicht nur für Zeitz, sondern allgemein für stagnierende Mittelstädte schaffen, also nicht ‚nur‘ unsere Abschlussarbeit verfassen, sondern einen kleinen Beitrag gegen die Stagnation leisten, Impulse setzen und Diskussionen zum Thema anregen. Umso mehr freut uns, dass das gelungen ist. Vorgestellt haben wir die Arbeit mittlerweile in Zeitz, Altenburg und Hohenmölsen - damit zeigten auch andere Städte Interesse an unserer Strategie. Wir hoffen natürlich, auch noch weitere Städte inspirieren zu können.
Gab es zu Ihrer Arbeit Rückmeldungen aus der Bevölkerung, die das Ganze ja letztlich betrifft?
SL/SR: „Im Kontext des Projekts „Open Space Zeitz“ des Vereins „Kultur- und Bildungsstätte Kloster Posa“ hatten wir die große Freude, unsere Arbeit öffentlich im Zeitzer Rathaus mit einem Vortrag sowie einer temporären Ausstellung zu präsentieren. Dadurch erhielten wir die Möglichkeit, unsere Erfahrungen und Ergebnisse mit der Bevölkerung zu teilen. In offenen und teilweise emotionalen Gesprächen fiel die Resonanz grundsätzlich positiv aus. Auch kritische Stimmen zählen für uns dazu, die zeigen, dass man an der richtigen Stelle ‚gebohrt‘ hat. Diesen Dialog provoziert zu haben, war alle Mühen wert.“
Wie erfolgreich kann Ihre Masterarbeit überhaupt sein bzw. was bedeutet für Sie Erfolg?
SL/SR: „Der Erfolg der Masterarbeit ist der Mehrwert, den wir erreicht haben - nicht nur für Zeitz, sondern allgemein für stagnierende Mittelstädte. Wir konnten einen Beitrag zur Ideenfindung gegen die Stagnation von Städten leisten, Impulse setzen und Diskussionen anregen. Der Gewinn der beiden Preise ist das ‚i-Tüpfelchen‘ und freut uns natürlich sehr, denn das bedeutet, dass unsere Idee durchaus auf Zuspruch stößt und als guter Ansatz im Umgang dem Thema gewertet wird.“
(Die Fragen stellt Franka Platz.)
Susan Radisch (25) ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft (ISB) der Universität Leipzig in Forschung und Lehre tätig, u.a. Evaluation zu „Ab in die Mitte! - Die City-Offensive Sachsen“; Schwerpunkt in der Lehre u.a. Klein- und Mittelstädte. Außerdem studiert sie noch Denkmalpflege auf Master bis voraussichtlich im September 2020 und arbeitet zudem projektbezogen in der Entwurfsplanung für Architekturbüros.
Sebastian Lorenz (28) Abschluss des Studiums als M.A. Architektur (HTWK Leipzig) im Juli 2018. Danach Mitbegründung und seitdem Arbeit im jungen interdisziplinären Architekturbüro „K2L Architekten“ in Leipzig.
Beide haben an der HTWK Leipzig Architektur studiert und im Sommer 2018 erfolgreich abgeschlossen.
Es geht weiter
Ähnliche, ebenfalls erfolgreiche Projekte der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften wurden in den vergangenen Jahren auch in Kamenz, Torgau und anderen Städten bearbeitet. Der sächsische Innenstadtwettbewerb „Ab in die Mitte! Die City-Offensive Sachsen “ – mit vergleichbarer Stoßrichtung wie die Masterarbeit von Radisch/Lorenz - wurde 2004 erstmals in Sachsen durchgeführt. Seitdem haben sich mehr als 120 Städte und Gemeinden daran beteiligt, mehr als 330 Projekte wurden eingereicht. Grundidee auch dieses Wettbewerbs ist es, vor allem durch Bürgerbeteiligung mehr Leben und damit auch mehr Besucher in die Städte und Gemeinden zu bringen und diese nachhaltig zu entwickeln. Aktuell erarbeiten HTWK-Architektinnen und Architekten gemeinsam mit der Stadt Oederan (Landkreis Mittelsachsen) eine städtische Freiluft-Fotogalerie. Wir werden darüber noch gesondert berichten.
Grafiken (Entwürfe): Radisch/Lorenz