Identitätspolitik: Freiheitseinschränkung oder Freiheitsermöglichung?
Häufig wird behauptet, dass identitätspolitische ‚politische Korrektheit‘ und ‚Cancel Culture‘ die Freiheit einschränken. Doch stimmt das wirklich? Die Antwort, die man auf diese Frage findet, hängt stark davon ab, was man unter Freiheit versteht. Deshalb analysiert der Vortrag diese Kritik an ‚politischer Korrektheit‘ und ‚Cancel Culture‘ und das dabei zugrunde gelegte Freiheitsverständnis. Dabei zeigt sich: Der philosophische Kern dieses Freiheitsdenkens ist, Freiheit als das Recht des Stärkeren zu verstehen. Denn die Freiheitseinschränkung wird aus der Perspektive derjenigen kritisiert, die gesellschaftlich stark bzw. privilegiert sind. Es geht darum, dass sie ihre Freiheiten behalten können. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, denn ‚Verbotspolitik‘ ist nichts Wünschenswertes. Doch manche Freiheiten – gerade manche Freiheiten von Stärkeren – haben negative Auswirkungen auf andere. Beispielsweise ist es Freiheit, sexistische Witze machen zu können, ohne dafür sanktioniert zu werden – aber darunter leiden dann Frauen. Die Situation wird durch dieses Freiheitsverständnis also verzerrt und einseitig interpretiert. Diese Verzerrung funktioniert, weil Freiheit ein universeller Begriff ist – Freiheit hört sich immer an wie Freiheit für alle –, weshalb oft vergessen wird, dass Freiheit (für die einen) oft mit Einschränkungen (für die anderen) einhergeht. Der Vortrag zeigt, dass Identitätspolitik nicht zu einer generellen Freiheitseinschränkung für alle führt, sondern auf eine spezifische Einschränkung der Freiheit von Privilegierten zielt, mit der Diskriminierungen abgebaut werden. Und dies ermöglicht erst die Freiheit aller.
Karsten Schubert ist Associate Fellow am Lehrbereich Politische Theorie der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der zeitgenössischen kritischen politischen Theorie und Sozialphilosophie: Radikale Demokratie, Identitätspolitik, Rechtsstaatlichkeit, queere und schwule Theorie sowie Michel Foucault. Seine Demokratietheorie der Identitätspolitik erscheint im Herbst unter dem Titel „Lob der Identitätspolitik“ bei C.H. Beck. Texte, Videos und aktuelle Informationen unter www.karstenschubert.net.