Emanzipation und Befreiung
In den letzten Jahren hat der Begriff der Freiheit mehr und mehr seine Unschuld verloren. Wenn von ›Freiheit‹ die Rede ist, dann denken wir nicht mehr unbedingt daran, Zwänge hinter uns gelassen und Fesseln gesprengt zu haben. Vielmehr denken wir an Einzelne, die ihre Freiheit auf Kosten anderer behaupten. Es gibt Freiheits- und Emanzipationsideologien mit weitreichenden Folgen. Sie haben philosophische Wurzeln und Rechtfertigungen; gleichzeitig gibt es auch Gegenmodelle, die sich ebenfalls philosophisch artikulieren und die als Modelle der Befreiung bezeichnet werden können. Sie stehen sich in aktuellen politischen Diskussionen unversöhnlich gegenüber: in wechselnden Gestalten als Demokratie und Kapitalismus, kritische Aufklärung und antirassistische dekoloniale Theorie, Liberalismus und Ökologie etc. Diese Paradoxie der Freiheit/Befreiung besser zu verstehen, könnte bedeuten, den gesellschaftlichen Polarisierungsdynamiken der krisengeschüttelten Gegenwart produktiv zu begegnen.
Marc Rölli, Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig. Bis 2015 Leiter des Forschungsschwerpunkts „Theorie und Methoden“ an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Full Professor für Philosophie an der Fatih University in Istanbul. Letzte Publikationen: Anthropologie dekolonisieren, Frankfurt a.M. 2021; Macht der Wiederholung, Wien 2019; Immanent denken, Wien 2018; Gilles Deleuze’s Transcendental Empiricism, Edinburgh 22018; Vierzig Jahre Überwachen und Strafen, Bielefeld 2017 (als Hg. mit Roberto Nigro).