Wasserstoff ist ein wichtiger Baustein der Energiewende, weil er regenerativ erzeugte Energie zwischenspeichern kann. Wie er gefahrlos zu Endkundinnen und Endkunden transportiert werden kann, demonstriert die HTWK Leipzig mit Partnerinnen und Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft im Wasserstoffdorf in Bitterfeld-Wolfen.
Auf den ersten Blick ist nur schwer vorstellbar, dass sich hier eine Modellregion der Zukunft befindet: Mitten im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, etwa 15 Autominuten von der A9 entfernt, befindet sich fast unscheinbar das sogenannte Wasserstoffdorf. Das etwa zwei Fußballfelder große Gelände ist mit einem meterhohen Sicherheitszaun abgesperrt. Nur ein großes Tor führt hinein. Von hier leitet ein Schotterweg zu einem Häuschen, von dem mehrere Rohre abgehen. Rechterhand steht ein verglaster Flachbau, linkerhand erstreckt sich eine Wiese mit grauen Abdeckungen.
Großes Interesse an Wasserstoff
Die zukunftsweisende Technologie befindet sich größtenteils unter der Erde und bleibt damit für Besucherinnen und Besucher verborgen. Trotzdem kommen seit der Inbetriebnahme des Wasserstoffdorfs im Mai 2019 regelmäßig an den Tagen der offenen Tür Interessierte aus Deutschland und der ganzen Welt, um sich über das Gelände führen zu lassen. So auch am 10. Juni 2020, als zehn Personen an einem Rundgang teilnehmen. Just an jenem Mittwoch verabschiedete die Bundesregierung auch ihre nationale Wasserstoffstrategie. Damit betont sie den Anspruch, sich in der Wasserstoffforschung eine globale Führungsrolle sichern zu wollen. Bis 2050 will sie die Energieversorgung umstellen; weg von Atomenergie und Kohleverstromung. Deshalb investiert die Regierung mehrere Milliarden Euro in innovative Energietechnologien und eine starke Energieforschung.
„Grüner Wasserstoff könnte dazu beitragen, die Strom- und Wärmeversorgung künftig bei weiterhin hoher Versorgungssicherheit klimaneutraler, umweltfreundlicher und langfristig kostengünstiger zu gestalten“, erklärt Robert Huhn, Professor für Gas- und Wärmenetze an der HTWK Leipzig.
Denn: Wasserstoff kann überall aus erneuerbaren Energiequellen hergestellt, anschließend transportiert, gespeichert und jederzeit wieder in andere Energieformen umgewandelt werden. Die Anwendungsmöglichkeiten reichen von der Stromerzeugung über die Wärmeversorgung bis hin zu wasserstoffbetriebenen Autos. Wasserstoff, der mit der chemischen Formel H2 abgekürzt wird, hat aber auch besondere Eigenschaften: Er ist das kleinste und damit auch flüchtigste chemische Element mit einer 14 Mal geringeren Dichte als Luft, ist farb- und geruchlos sowie leicht entzündlich. Der sehr leicht flüchtige Wasserstoff bildet ab bestimmten Mischverhältnissen mit Luft oder reinem Sauerstoff explosive Gemische. Die geringe Dichte lässt das Gas außerdem verschiedene Materialien durchdringen. Mehr als 130 Partnerinnen und Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft – darunter die HTWK Leipzig – haben sich deshalb im Forschungsverbund „Hydrogen Power Storage & Solutions East Germany“ (Hypos) das Ziel gesetzt, die Wasserstoffnutzung technisch sicher und zugleich wirtschaftlich zu machen.
Erprobung der Wasserstoff-Infrastruktur
In insgesamt 34 Projekten wird die Herstellung, Speicherung, Verteilung und breite Anwendung von Wasserstoff in den Bereichen Energieversorgung, Chemie, Raffinerie und Mobilität erforscht. In Mittel- und Ostdeutschland entstand so in den letzten Jahren eine Modellregion für eine grüne Wasserstoffwirtschaft, die im Rahmen der Initiative „Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation“ vom Bundesforschungsministerium mit insgesamt über 45 Millionen Euro gefördert wird. Im „H2-Netz“-Projekt testet die Mitteldeutsche Netzgesellschaft Gas (Mitnetz Gas) gemeinsam mit den Partnern, der HTWK Leipzig, dem Forschungsunternehmen DBI Gas-und Umwelttechnik, dem Kunststoffhersteller Rehau und dem Tüv Süd, wie Wasserstoff unter realen Bedingungen verteilt werden kann und ob dazu bereits bestehende Systeme genutzt werden können. „Dafür untersuchen wir, wie die Verteilung ökonomisch und ökologisch nachhaltig gelingt und welche Materialien für die Infrastruktur geeignet sind“, erklärt Robert Huhn, der an der HTWK Leipzig das Projekt H2-Netz leitet. Das Versuchsgelände ist deshalb als eigenes, kleines Verteilnetz von der Gaspipeline bis zu Endverbraucherinnen und Endverbrauchern aufgebaut.
Grüner Wasserstoff
Um Wasserstoff zu gewinnen, wird per Elektrolyse Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff getrennt. Dafür ist Energie nötig. Von „grün“ ist die Rede, wenn Energie aus erneuerbaren Ressourcen wie beispielsweise Sonnen-, Wind- oder Wasserkraft gespalten wird. Ein Teil der Energie geht dabei verloren, jedoch werden die Anlagen stets weiterentwickelt und somit immer effizienter. Wasserstoff ist einfach speicher- und transportierbar. Durch „kalte Verbrennung“ lässt er sich ganz ohne Abgase jederzeit wieder in Strom und Wärme umwandeln. Anders als Strom aus Sonne und Wind unterliegt er keinen zeitlichen und räumlichen Schwankungen. Von industriellen oder kleineren Endverbraucherinnen und Endverbrauchern könnte Wasserstoff beispielsweise in der Hausenergie- und Stromversorgung, als Kraftstoff in der Mobilität oder als Rohstoff in Chemie, Raffinerie oder Ammoniakherstellung verwendet werden.
Geruch für mehr Sicherheit
Mit der Geländeführung beginnt an jenem Junitag Jürg Ziegenbalg von der Mitnetz Gas. Er ist für den Betrieb und die Instandhaltung des Wasserstoffdorfs verantwortlich. Dazu versammeln sich die Anwesenden an dem kleinen Häuschen. Es riecht ein wenig nach verfaulten Eiern. Angst haben muss niemand, denn das soll so sein. „Hier befindet sich die Odorieranlage, in der der eigentlich geruchlose Wasserstoff riechbar gemacht wird“, erklärt er. Dieser Prozess ist wichtig, denn würde das Gas unbemerkt ausströmen, könnte es zu einer Explosion kommen. Die Beigabe von Odoriermittel dient daher zum Schutz. „Bereits geringste Mengen Wasserstoff können so von der menschlichen Nase wahrgenommen werden“, erklärt Ziegenbalg. Etwa 50 Milliliter Odoriermittel werden pro Jahr in der kleinen Anlage verbraucht. „Pro Kubikmeter Wasserstoff geben wir einen Nieselregentropfen Odoriermittel hinzu“, so Ziegenbalg.
In dem kleinen Häuschen selbst befinden sich hinter der linken Tür die Gasdruckregel- und Messanlage. Hier kommt der Wasserstoff mit maximal 25 Bar an. In der Anlage wird der Gasdruck in mehreren Stufen reduziert.
Sind Kunststoffrohre geeignet?
Zwischen Gasdruckregelanlage und Info-Pavillon fließt der Wasserstoff durch ein 1,4 Kilometer langes System aus Rohren. Diese bestehen aus verschiedenen Materialien, vorwiegend aus Kunststoff, aber auch aus Stahl. In der Industrie wird Wasserstoff bislang ausschließlich in Stahlrohren transportiert; Erdgas wird hingegen schon über Kunststoffleitungen verteilt. Doch Stahl wird spröde, weil sich bei der sogenannten Wasserstoffversprödung kleine H2-Atome im Metallgitter der Stahllegierung einlagern, wodurch diese aufbrechen, undicht werden und reißen können. Bei Kunststoffrohren passiert das nicht. Mit den bekannten Kunststoffartikeln aus dem Haushalt sind sie nicht vergleichbar, denn die bestehen aus anderen Kunststoffen und werden beispielsweise durch UV-Strahlung spröde.
„Die im Forschungsprojekt verwendeten Kunststoffrohre sind zudem in ihrer Herstellung CO2-ärmer als Stahl. Auch können sie mit modernen, grabenlosen Verfahren deutlich schneller und umweltfreundlicher verlegt werden“, erklärt Robin Pischko, Projektmitarbeiter an der HTWK Leipzig.
Sollte sich zeigen, dass Wasserstoff mit denselben Materialien wie für Erdgasleitungen transportiert werden kann, könnten Energieunternehmen auf die bestehende Gasinfrastruktur aufbauen. Das würde die Umstellung auf Wasserstoff deutlich attraktiver machen.
Doch aufgrund der besonderen Eigenschaften des Wasserstoffs müssen die Forschenden prüfen, ob die Bauteile auch für den Einsatz von reinem Wasserstoff geeignet sind. Zur Erklärung führt Christopher Knorr vom DBI die Besuchsgruppe zur Rohrbrücke. Der Ingenieur arbeitete bis 2019 an der HTWK Leipzig und hat das prototypische Verteilnetz für Wasserstoff von Anfang an mitentwickelt. Seit Januar 2020 ist er Projektkoordinator des H2-Netz-Projekts beim DBI. Er erklärt: „Kunststoffrohre sind auf einer Rohrbrücke so noch gar nicht erlaubt, weil es bislang keine Zulassungen gibt.“ Kunststoff dehnt sich ähnlich wie Metall bei Wärme aus. Deshalb liegen die Leitungen auf Schienen, auf denen sie sich verschieben können. Da mit steigender Oberflächentemperatur der Rohre auch die Festigkeit des Materials nachlässt, muss wiederum der Druck angepasst werden. Im Sommer strömt der Wasserstoff deshalb mit 11 Bar und im Winter mit 13 Bar durch die Leitungen. Eine PE-Schaumstoff-Schicht schützt die Rohre vor der Sonneneinstrahlung.
Warnung vor ausströmendem Gas
Neben Umwelteinflüssen testen die Forschenden auch die Permeation, also inwieweit Wasserstoff Materialien durchdringt und dadurch austritt. Dazu sind die Rohre mit verschiedenen Barriereschichten aus zusätzlichen Kunststoffen oder Metallen verkleidet. „Wasserstoff ist das kleinste Molekül der Welt. Trotzdem dauert es dank der verwendeten Materialien mehr als ein Jahr, bis das Molekül durchkommt und nachweisbar ist“, so Knorr. Das weiß er so genau, weil das DBI eine Permeationszelle entwickelt hat, die als Manschette von beiden Seiten das Rohr umschließt. Die damit entnommenen Gasproben untersuchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Labor.
Undicht war bislang kein Rohr. Würde irgendwo Wasserstoff ausströmen, würde das die zusätzlich eingebaute Gaswarntechnik mit zwei Sensoren registrieren. Dann würde sich die Anlage automatisch abschalten. Zur Sicherheit tragen auch ausführliche Betriebsanweisungen, strenge Instandhaltungsmaßnahmen und Verhaltensregeln wie das strikte Rauchverbot bei.
Auch die Art und Weise, wie die Gasleitungen verlegt werden, kann Auswirkungen auf die Sicherheit haben. Deshalb werden unter der Erde verschiedene Verlegeverfahren getestet. Die Besucherinnen und Besucher können dies nur erahnen, aber nicht sehen, denn das Verteilnetz verläuft etwa anderthalb Meter unter der großen Brachfläche. Die verschiedenen Rohre wurden per Bohrspülungsverfahren, Grabenverlegung und Erdrakete verlegt. „Mit der Zeit können die Rohre durch den Druck der Erde Kerben, Dellen, Furchen oder Ähnliches erleiden, wodurch das Material schneller Risse bekommen und so der Wasserstoff leichter nach außen dringen könnte“, erklärt Pischko. Die Mitarbeiter des Wasserstoffdorfs kontrollieren deshalb regelmäßig den Zustand der Rohre. Die HTWK Leipzig erstellt zur ökonomisch-ökologischen Bewertung von Verteilnetzinfrastrukturen für das H2-Netz-Projekt außerdem Tools, um beispielsweise die CO2-Einsparung berechnen zu können.
Nur verbrannt in die Atmosphäre
Im Verteilnetz des Wasserstoffdorfs kommt das Gas nach einer Strecke von 1,4 Kilometern schließlich am Informationspavillon an, dem verglasten Flachbau linkerhand im Wasserstoffdorf. Die Besucherinnen und Besucher müssen dafür nur wenige Meter gehen. Ab hier übernimmt Patrick Becker von Mitnetz Gas die Gästeführung. Am Pavillon wird ein regulärer Hausanschluss simuliert und die dezentrale Energieversorgung mit einer Wasserstoff-Brennstoffzelle erforscht. Hinter dem Pavillon befindet sich ein Container mit einer knapp sechs Meter langen Versuchsstrecke. „Hier untersuchen wir, ob die handelsüblichen Gasströmungswächter, also die Sicherheitseinrichtungen, bei hundertprozentigem Wasserstoff genauso funktionstüchtig sind wie bisher bei Erdgas“, erklärt Becker. Getestet werden auch Gaszähler. Denn wie viel Gas tatsächlich die Leitung durchströmt, ist für die Abrechnung gegenüber Kundinnen und Kunden entscheidend.
Manchmal lassen die Mitarbeiter im Wasserstoffdorf zu Forschungszwecken deutlich mehr Gas in die Leitungen als eine Brennstoffzelle verbrauchen kann. Das überschüssige Gas leiten sie dann vorher aus den Rohren in die speziell für das Projekt entwickelte Fackelanlage, wo es verbrannt wird. In der Gasbranche ist das bisher nicht üblich. Erdgas wird bei kleinen Entleerungsmengen direkt in die Atmosphäre abgelassen. Mit Wasserstoff wäre das aber gefährlich. Um eine Explosion auszulösen, bedarf es gerade einmal der elektrostatischen Aufladung von Kleidung oder mechanischer Funken durch die Reibung eines Rost- oder Metallteilchens in einem der Rohre. „Es ist deshalb verboten, Wasserstoff unverbrannt in die Atmosphäre strömen zu lassen“, betont Jürg Ziegenbalg.
Forschung für den Praxiseinsatz
Die Besucherinnen und Besucher sind damit an jenem Tag am Ende ihres Rundgangs angekommen. Obwohl oberflächlich kaum etwas zu sehen war, dauerte die Besichtigung des Wasserstoffdorfs fast zwei Stunden, denn unter der Erde schlummert enormes Potenzial. Laut aktuellen Zwischenergebnissen kann Wasserstoff effizient und sicher verteilt und die bestehende Gasnetzinfrastruktur zum großen Teil genutzt werden. Grüne Gase wie Wasserstoff werden deshalb beim Ausstieg aus der Kernenergie und der Kohle zu einem bedeutenden Energieträger im Energiesystem der Zukunft. „Deshalb ist es wichtig, durch angewandte Forschung und Reallabore die Technologien zur Erzeugung, Verteilung, Speicherung und Anwendung von Wasserstoff weiterzuentwickeln und damit marktreif zu machen. Das hilft bei der flächendeckenden Einführung der Wasserstofftechnologien und damit auch beim schrittweisen Ausstieg aus den fossilen Energiequellen“, erklärt HTWK-Professor Robert Huhn abschließend. Durch die aktuelle Wasserstoffstrategie der Bundesregierung komme hierbei endlich mehr Schwung in den Transformationsprozess.
Robin Pischko (*1995) ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Ingenieurwissenschaften der HTWK Leipzig. Zuvor studierte er von 2014 bis 2019 Energie-, Gebäude- und Umwelttechnik an der HTWK Leipzig. Für das Projekt H2-Netz wertet er Messdaten aus, dokumentiert Versuche und erforscht ökologische und ökonomische Aspekte der Wasserstoffinfrastruktur. | Prof. Dr. Robert Huhn (*1974) ist seit 2019 Professor für Gas- und Wärmenetze an der Fakultät Ingenieurwissenschaften der HTWK Leipzig. Der promovierte Maschinenbau-Ingenieur befasst sich mit Gasversorgungstechnik und Gasanwendung in Industrie, Gewerbe und Haushalten sowie mit der Verteilung von thermischer Energie in Wärmenetzen. Wasserstoffanwendungen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Seit 2020 leitet er an der HTWK Leipzig das Forschungsprojekt H2-Netz. |
Dieser Text erschien zuerst im Forschungsmagazin Einblicke 2020/21 der HTWK Leipzig. Hier können Sie das Magazin digital lesen oder kostenfrei abonnieren.
Am 14. Juli 2021 öffnet das Wasserstoffdorf wieder seine Pforten für Besucherinnen und Besucher. Bitte melden Sie sich bei Interesse auf dieser Website an. Informationen dazu finden Sie ebenfalls bei Hypos.