Interview anlässlich des Jubiläums am 01. Oktober 2024
2022 feierte die HTWK Leipzig das Jubiläum ihres 30jährigen Bestehens. Doch ihre Geschichte reicht dank ihrer Vorgängereinrichtungen viel länger zurück – und ist mindestens genauso vielfältig wie die Hochschule selbst. Die Hochschule ist im wahrsten Sinne des Wortes „historisch gewachsen“.
Die ehemalige Zentrale Energiebetriebsfachschule Markkleeberg gehört auch dazu: Am 1. Oktober 1949 (also noch vor der DDR) gegründet – mit direkter Zuordnung zum Ministerium für Kohle und Energie. 1956 in „Ingenieurschule für Gastechnik“ und 1970 dann in „Ingenieurschule für Energiewirtschaft“ (ISE) umbenannt, wurde sie schließlich 1988 in die Technische Hochschule Leipzig (TH) integriert und wurde damit 1992 Teil der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig.
Noch bis 2015 war hier der Fachbereich Maschinenbau und Energietechnik untergebracht, der dann im komplett neu errichteten Nieper-Bau sein Domizil fand.
Nicht nur die Gebäude, sondern auch die Ausrichtung und damit die Studieninhalte änderten sich mit den Jahren immer wieder, passten sich an die gesellschaftlichen Herausforderungen an. Wo steht die Energietechnikausbildung heute?
FP: Die Herausforderungen bezüglich Energie sind ja heute ganz andere als damals zur Gründungzeit…
GG: Ja natürlich! Zu Beginn 1949 war das Ziel, in erster Linie die Energieversorgung der DDR nach dem 2. Weltkrieg zu sichern. Die Umwelt oder erneuerbare Energien spielten damals noch keine Rolle, das kam erst ca. Ende der 1980er Jahre mit Angliederung an die Technische Hochschule Leipzig. Aber natürlich geht es immer noch um Energie – der Weg von den fossilen Brennstoffen hin zur Klimaverträglichkeit steht im Mittelpunkt. Bis 2030 sollen in Deutschland die Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990 sinken. Heute sind wir da noch um einiges entfernt. Der Kohleausstieg bis 2038 ist beschlossen, Ziel ist Klimaneutralität bis 2045. Damit verbunden ist der Strukturwandel ganzer Regionen, wir erleben es hier im Südraum Leipzig und in der Lausitz – und als weitere Herausforderung die Anpassung des Energiebedarfs ans Angebot. Neu hinzugekommen sind andere Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, zum Beispiel „Resilienz gegen Cyberattacken und Terrorangriffe“. Auch das muss mitgedacht werden – ich erinnere an den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines 2022.
FP: Das 75jährige Jubiläum bezieht sich auf Ausbildung bzw. Studium. Was müssen Ingenieurinnen und Ingenieure heute können?
GG: Wir müssen viel größer und vernetzter denken. Wir Lehrenden an der HTWK Leipzig sehen uns als Coaches, die Menschen mit breitem Wissen heranbilden, Generalisten und Generalistinnen. Wir brauchen Menschen, die über den Tellerrand schauen. Natürlich müssen sie MINT-stark sein, aber das allein reicht nicht (mehr).
DF: Die Nachfrage nach Studienplätzen bei uns ist aber nach wie vor gut, wir sind immer „voll“. Leipzig als Standort hat natürlich Strahlkraft. Unser Image stimmt aber insgesamt, die HTWK bietet viele Vorteile: Wir haben lebendige und gewachsene Kontakte zu Firmen, Aufgaben direkt vor Ort – Stichwort Strukturwandel im Südraum, sehr gute Netzwerke. Unser Studium ist sehr praxisorientiert, weil Lehrkräfte oft einige Jahre in der Wirtschaft gearbeitet haben.
Der Numerus clausus betrug im Studienjahr 2023/24 im Bachelor 1,9, für Master 1,6. Der Frauenanteil liegt im Mittel der letzten Jahre liegen bei ca. 20-25 Prozent.
FP: Mit welcher Erwartung und welcher Motivation beginnen die Studierenden ihr Studium?
GG: Auf jeden Fall ist Umweltbewusstsein vorhanden, das liegt nahe. Sie sind veränderungsoffen bzw. möchten die Welt verändern, und sie sind selbstbewusster als die Studierenden früher. Die Marktlage für Absolventinnen und Absolventen ist sehr gut, und das wissen sie auch. Anders als früher geben kooperierende Unternehmen den Studierenden oft Vorschläge für eigene Themen für Bachelor- oder Master-Arbeiten – durch Praxisnähe zu Firmen schon im Studium beispielsweise. Professorinnen und Professoren benötigen daher weniger Vorgaben als früher, prüfen aber natürlich den wissenschaftlichen Anspruch.
FP: Was sind aktuell die größten Herausforderungen in der Lehre?
GG: Die Studierenden müssen (mehr) arbeiten. Das bedeutet, sie haben weniger Zeit fürs Studium. Das merkt man auch an den Exkursionen: Wofür man sich heute eher nur einen Tag Zeit nimmt, dauerte früher zwei, drei Tage. Auch die Methodik der Lehre hat sich verändert – digitale bzw. hybride Lehre ist komfortabel für alle, ersetzt jedoch nicht die Präsenz.
RH: In meinen Vorlesungen und Seminaren ist oft nur etwa die Hälfte der Studierenden in Präsenz anwesend. Viele Studierende lernen auch individuell mit Hilfe der digital im OPAL bereitgestellten Skripte und Lehrunterlagen. Das Studierverhalten ist heute stärker abhängig von Wohnort und Lerntyp, aber auch von äußeren Randbedingungen, wie z.B. parallelen Nebenjobs zur Finanzierung des Studium. Diesbezüglich gibt es heute viel mehr Freiheiten. Aber das hat auch Nebenwirkungen: Man kennt sich weniger und ist teils stärker auf sich selbst angewiesen.
Geschichte der Fakultät Ingenieurwissenschaften (Video)
FP: Was zeichnet aus Ihrer Sicht gute Lehre aus?
GG: Vernetztes Denken! Eigenständiges Denken! Das muss Lehre fördern. Die integrale und interdisziplinäre Betrachtungsweise kann bei Master-Studierenden schon eher erwartet werden als beim Bachelor, die Studierenden entwickeln sich im Laufe des Studiums weiter. Ein Beispiel: Wir geben Übungsaufgaben anhand eines Hauses, bei dem die Studierenden Heizung, Lüftung und Trinkwasserversorgung planen sollen – inklusive eingebauter Fehler, die zu finden sind. Also eine Art „Planspiel mit dem Bauherrn“. Dabei ist auch Kommunikation sehr wichtig, Sozialkompetenz. Diese wird unter anderem auch durch das Studium generale vermittelt. Auch Team- und Gruppenarbeiten sowie Praktika tragen dazu bei. Die Studierenden lernen, Meinungen zu vertreten und begründen, und auch Führung. Alles Management-Qualitäten. Nicht jeder und jede ist ein Entertainer, aber man wird immer sicherer. Wir müssen weg vom Schubladendenken.
Gute Lehre passt sich auch an gesellschaftliche Entwicklungen an. So haben wir seit 2021 zum Beispiel eine ganz neue Professur, die eine Lücke geschlossen hat: „Vernetzte Energiesysteme“ mit Prof. Jens Schneider. Auch neue Module werden stetig entwickelt. Die Lehre wird laufend evaluiert und alle sieben Jahre akkreditiert.
FP: Kurzer Ausblick – wohin geht die Reise?
GG: Bei den regenerativen Energien bleibt es herausfordernd, Energieangebot und -nachfrage aufeinander abzugleichen. Speichertechnologien sind gefragt und bedürfen weiterer umfangreicher Forschung. Kurzum: Wir müssen die Herausforderungen meistern und technologische Lösungen schaffen. Dafür bekommen die Studierenden die nötigen Werkzeuge von uns vermittelt.
RH: Das bleibt generell ein Thema: Die Akzeptanz von technologischem Fortschritt in der Bevölkerung.
FP: … es gibt beispielsweise Widerstände und Beschwerden wegen Lärmemission in Deutschlands größtem Solarpark in Witznitz bei Leipzig, der erst im Juli eröffnet wurde …
RH: Ja, ohne einen persönlichen Nutzen zu erkennen, ist auch die Toleranz für solche Großanlagen bei vielen Anwohnern begrenzt. Aber auch im Kleinen: Das Thema Wärmepumpe ist kontrovers, da die Kosten für viele Bestands-Hausbesitzer zu hoch sind, sie keine ausreichenden Finanzierungsquellen sehen und durch kurzfristige regulatorische Vorgaben verunsichert sind. Energie muss bezahlbar bleiben, dafür muss die Politik geeignete Randbedingungen liefern. Unabhängige Informationen aus der Wissenschaft und greifbare, erlebbare Beispiele können hier weiterhelfen. Man kann nur versuchen, alle Mitbürger und -bürgerinnen immer wieder mitzunehmen und als Vorbild voranzugehen, Dinge aufzuzeigen, z.B. durch Tage der offenen Tür, wie sie regelmäßig auch im Wasserstoffdorf Bitterfeld-Wolfen stattfinden. Dort erforscht die HTWK Leipzig gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft den Transport und die Verteilung von Wasserstoff durch Kunststoff-Gasleitungen, wie sie schon für Erdgas als Stand der Technik eingesetzt werden. Wir als Ingenieure und Ingenieurinnen müssen praxistaugliche technologische Lösungen schaffen. Dafür bekommen die Studierenden die nötigen Werkzeuge von uns vermittelt.
Das Interview führte Franka Platz, Pressereferentin der HTWK Leipzig
Zeittafel
01. Oktober 1949: Gründung Zentrale Energiebetriebsfachschule, Fachschule für Energie
01. September 1956 Umbenennung in Ingenieurschule für Gastechnik (IfG)
01. Oktober 1970 Umbenennung in Ingenieurschule für Energiewirtschaft (ISE)
01. September 1988 Integration der ISE in die Technische Hochschule (TH) Leipzig
15. Juli 1992 Gründung der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH), Bildung des Fachbereichs Maschinen- und Energietechnik
08. Mai 2015 Umzug von Markkleeberg in den neu errichteten Nieper-Bau