HTWK-Professor Andreas Thiesen fordert ein Umdenken in der Stadtentwicklung
Ob Berlin-Hellersdorf, Duisburg-Marxloh oder Hamburg-Billstedt – fast keine deutsche Stadt, in welcher nicht mindestens ein Viertel als „sozialer Brennpunkt“ bezeichnet wird. Auf vielfältige Art und Weise haben Stadtplaner und Sozialarbeiter in den vergangenen Jahren versucht, die Lebensbedingungen in solchen Stadtteilen zu verbessern – und das keineswegs immer erfolgreich. Prof. Andreas Thiesen von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) wundert das kaum: In seinem neuen Buch „Die transformative Stadt“ argumentiert er, dass konventionelle Stadtentwicklungskonzepte die Lebensrealitäten in immer vielfältiger werdenden Stadtgesellschaften ignorieren: „Das Lokale muss neu gedacht werden. Denn durch digitale Welten, soziale Beschleunigung und globale Migration spielt die unmittelbare Nachbarschaft für den Einzelnen tendenziell immer weniger eine Rolle.“
Die „sozialen Brennpunkte“ deutscher Städte zeichnen sich durch niedrige Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit und einen Mangel an gesellschaftlichen Perspektiven aus. Doch die Etikettierung als Problemviertel weicht mitunter stark von der Selbstwahrnehmung der Bewohner ab, die sich – so die Erfahrung vieler Sozialarbeiter – oft auch nicht an Aktionen des lokalen Quartiersmanagements beteiligen. „In der sozialen Stadtentwicklung wird seit jeher auf Konzepte zurückgegriffen, die den lokalen Raum überhöhen. Dabei findet häufig eine symbolische Aufwertung durch neue Begriffe statt – aus einem ‚Problemviertel‘ wird so ein ‚liebenswertes Quartier‘. Aber das Leben der Menschen vor Ort wird durch eine derartige Umetikettierung nicht verbessert“, so Andreas Thiesen. Denn viele der sozialen Probleme, die die vermeintlichen „sozialen Brennpunkte“ ausmachen, seien überhaupt nicht durch althergebrachte Konzepte der Stadtteilarbeit zu lösen. Vielmehr handele es sich um gesamtgesellschaftliche Probleme – zum Beispiel die wachsende Fragmentierung der Gesellschaft – die räumlich gesehen vermehrt dort auftreten, wo die Lebenshaltungskosten niedrig sind. Andreas Thiesen: „Es ist ein Trugschluss, dass sich Menschen automatisch mit ihrem sozial benachteiligten Stadtviertel identifizieren – von Einwohnern in gehobenen Wohngegenden erwartet das ja auch niemand. Denn ‚Heimat‘ ist durch das Internet und die gestiegene Mobilität zwischen Stadtteilen, Städten, Regionen und Staaten heute nur noch selten an einen einzigen Ort gebunden.“ Vor diesem Hintergrund fordert Thiesen von einer zeitgemäßen Stadtentwicklung, sich von administrativen Quartiersgrenzen zu lösen und stärker diejenigen miteinbeziehen, die vor Ort leben – ohne sich vorschnell ein Bild von ihnen zu machen.
Andreas Thiesen ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialer Raum an der HTWK Leipzig. Die Forschungsschwerpunkte des 36-Jährigen sind unter anderem Stadt- und Diversitätsforschung. Seine Forschungsstreifzüge brachten ihn unter anderem nach Buenos Aires. An der HTWK Leipzig widmet er sich am liebsten ethnographischen Lehr- und Forschungsprojekten in unterschiedlichen Leipziger Stadtteilen.
Vollständige Literaturangabe:
Andreas Thiesen: Die transformative Stadt – Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität. Bielefeld 2016: transcript Verlag (Reihe „Urban Studies“). ISBN: 978-3-8376-3474-7