EINBLICKE. Forschungsmagazin 2017 Gesundheit erhalten – Life Science & Engineering. Reha-Maßnahme in Anspruch genommen. Und damit ist er keineswegs ein Einzelfall. „Lediglich die Hälfte derer, die eine EM-Rente erhalten, haben vorher an einer Reha teilge- nommen. Im gesamtdeutschen Vergleich ist diese Quote in Mitteldeutschland besonders niedrig. Aber nur wenn wir die Ursachen hier- für kennen, können wir zukünftig bessere An- gebote für unsere Versicherten entwickeln“, erklärt Daniela Kopp-Schönherr von der DRV Mitteldeutschland. Die Rentenversicherung hat deshalb die Forschungsgruppe „Soziales und Gesundheit“ an der HTWK Leipzig mit ei- ner Studie zu den Hintergründen beauftragt. Unter Leitung von Prof. Gesine Grande ana- lysierte die Psychologin Cornelia Sperling die Versicherungsdaten von EM-Berenteten mit psychischen Erkrankungen. Dabei trat zunächst ein interessantes Ergebnis zutage: Es gibt tatsächlich regionale Unterschiede in der Inanspruchnahme von Reha-Leistungen; besonders niedrig ist die Quote in den Stadt- staaten und im Nordosten Deutschlands. Weiterhin zeigte sich, dass eher ältere Män- ner mit niedrigem Einkommen direkt in die Erwerbungsunfähigkeit gleiten, ohne vorher an einer Reha teilgenommen zu haben. Aber ob das daran lag, dass die Betroffenen keine Reha beantragt haben, oder ob sie zwar einen Antrag gestellt haben, dieser aber abgelehnt wurde, das lässt sich aus der statistischen Analyse nicht ableiten. Um die persönlichen und strukturellen Hintergründe für die nied- rige Reha-Inanspruchnahme besser zu verste- hen, führte die Gesundheitswissenschaftlerin Sabine Herget deshalb zahlreiche Interviews mit Betroffenen, medizinischen Experten und Mitarbeitern der Rentenversicherung. So wurde auch Ronny Winkler interviewt. Warum er keine Reha beantragt hat? „Ich kenne so viele, die es versucht haben, und dann wurde es abgelehnt. Da frage ich mich, warum ich es überhaupt erst versuchen soll.“ Aus Sicht psychisch Erkrank- ter erscheint der Weg in die Rehabilitation oft undurch- sichtig und kompliziert Tatsächlich geht es vielen so, erklärt Sabine Herget, und erläutert weitere Gründe, warum Betroffene erst gar keinen Antrag stellen: „Manche bezweifeln, dass ihnen eine Reha überhaupt nützen würde. Andere fürchten eine Stigmatisierung durch ihr privates Um- feld oder ihr Arbeitsumfeld. Und einige wis- sen gar nicht, dass sie überhaupt einen An- spruch auf eine Reha haben.“ Wem dagegen sein Hausarzt oder Psychiater dazu rät, wo- möglich sogar bei der Antragsstellung hilft, der stellt eher einen Antrag und hat gute Chancen auf eine Bewilligung der Reha. Auch die befragten Sozialarbeiter und Psychia- ter sind sich darin einig, dass die größte Barriere in der eigentlichen Antragsstellung für eine Rehamaßnahme liegt, die gerade für diejenigen, die es am nötigsten hätten, besonders schwierig ist: „Mit beispielsweise niedriger Schulbildung und langjähriger psy- chischer Erkrankung haben die Betroffenen natürlich Schwierigkeiten, so eine Maßnahme zu begründen. Sie brauchen jemanden, der da mitmacht“, bringt es einer der Psychiater im anonymen Interview auf den Punkt. Genau hier liegt aus Sicht der Wissenschaftlerin- nen der Knackpunkt. „Ärzte und Mitarbeiter der Rentenversicherung unterschätzen diese Schwierigkeiten der Patienten oft erheblich“, so Projektleiterin Prof. Gesine Grande. „Ins- besondere den Hausärzten fehlt es an Zeit und an spezifischen Kenntnissen über das Rehabilitationssystem, um die Patienten mit psychischen Erkrankungen besser zu unter- stützen.“ Die DRV Mitteldeutschland wertet derzeit die Studienergebnisse des Forschungsprojekts aus und entwickelt darauf aufbauend Verbes- serungsmaßnahmen. Im Herbst 2017 ist ein Expertenworkshop in Leipzig geplant, bei dem die Ergebnisse diskutiert werden. Prof. Dr. p. h. habil. Gesine Grande Diplom-Psychologin, 1991–2003 wissen- schaftliche Mitarbeiterin/Assistentin an den Universitäten Leipzig, Essen und Biele- feld. 1997 promoviert zum Doctor of Public Health, 2012 Habilitation an der Medizini- schen Fakultät der Universität Leipzig. Von 2003–2013 Professorin für Gesundheits- psychologie an der HTWK Leipzig, dort Grün- dung der Forschungsgruppe „Soziales und Gesundheit“. 2014 Berufung an die Univer- sität Bremen. Seit Oktober 2014 Rektorin der HTWK Leipzig. Vom beruflichen Stress nimmt sie sich bewusst kleine Auszeiten, etwa beim allmorgendlichen Zeitungslesen. gesine.grande@htwk-leipzig.de 47